
Mischtechnik: Aquarell („White Nights“, Nevskaya Palitra, honiggebunden), Acryl (Gold, Silber, Bronze, Aquamarin, Deckweiß), Graphit, Farbstift (KOH-I-NOOR) und Blattgold auf Karton der Marke „Hahnemühle“, 60 × 40 cm (Blatt)
Signiert u. r. mit weißem Gelstift auf aquarelliertem Grund; verso bez.
Darstellung der Erlöserkirche auf dem Blut (Спас на крови, „Blutkirche“), Sankt Petersburg
Inv.-Nr. DY-2019-AQ-002
© Daniel Yakubovich.
Es gibt Städte, in denen die heiligsten Orte nicht ein Wunder markieren, sondern ein Verbrechen. Sankt Petersburg gehört dazu. Bevor hier eine Kirche stand, lag auf dem nassen Kopfsteinpflaster eine langsam gerinnende Blutlache. Die Blutskirche1 war der Versuch, ein politisch motiviertes Attentat in eine heilsgeschichtliche Erzählung zu überführen und den Anschlag auf ein Staatsoberhaupt metaphysisch zu deuten. An der Stelle, an der Alexander II. 1881 von den Bomben einer sozialrevolutionären Gruppierung2 tödlich verwundet wurde, ließ sein Sohn eine Uferpromenade aus dem Stadtgefüge herausschneiden, den Jekaterinen-Kanal3 verengen und eine Memorialkirche um das blutbefleckte Stück Kopfsteinpflaster errichten, auf das der angeschossene Monarch infolge eines Attentats aus seiner Kutsche fiel. Unter einem kostbaren Ziborium aus Edelsteinen und Bergkristallen bleibt die ursprünglichen Pflasterung der Uferstraße sichtbar – wie eine eingefrorene Wunde im Stadtkörper, überzogen mit einem liturgischem Gewand. Die Kirche markiert damit nicht einfach einen Erinnerungsort, sondern sakralisiert einen Gewaltakt: Das vergossene Blut des „Befreier-Zaren“4 wird als Märtyrerblut codiert, das Reich erhebt den dynastischen Korpus zur Reliquie und schreibt die Chance auf eine andere, konstitutionellere Zukunft buchstäblich zu – indem es sie mit Mosaiken überzieht.
Ein Blick in das Heilige Land schärft den Blick dafür, wie sich die Überlagerung irdisch-politischer Machtansprüche mit religiös-metaphysischen Deutungshoheiten architektonisch artikuliert:
So ist der Felsendom ist mehr als eine Moschee auf dem Jerusalemer Tempelberg, der seinen Namen wiederum den Salomonischen und Herodianischen Tempelbauvorgängern verdankt. Der Felsendom fungiert als Schrein für einen ebenso aufgeladenen Boden, den Fundamentstein der jüdischen Tempeltradition und zugleich nach islamischer Überlieferung den Ausgangspunkt der Nachtreise und Himmelfahrt des Propheten Mohammed. Wie in Petersburg wird ein bedeutungsträchtiger Flecken Erde umrahmt, umbaut und umschirmt: Ein achteckiger Ring von Säulen, Ambulatorien5 und Inschriften umkreist einen Stein, der selbst unberührt bleibt – architektonisch eine Art »Denkfigur« dafür, dass das Unverfügbare in der Mitte liegt und nur in Riten, Umläufen, Textschichten berührt werden darf.
Das Prinzip, ein unberührbares Erdrelief zu umbauen, weil der Erde selbst eine metaphysische Kraft zugesprochen wird, fand bereits in meiner akademischen Abschlussarbeit an der Universität der Künste einen entwurfspraktischen Ausdruck. Hier in einem entsprechenden Essay nachzulesen:
Dieses Prinzip gibt es auch im Christentum – ein minimaler Flecken zumeist blutgetränkter Erde als Relikt, darüber ein maximaler architektonischer Apparat. Das prominenteste Beispiel ist unweit des Felsendoms ebenfalls in der Heiligen Stadt zu finden: Die Grabeskirche hat die für Jerusalem typische, karstige Naturlandschaft aus Hügeln und Höhlen baulich bezwungen und in eine vollständig überformte Kulturlandschaft übersetzt. Das Gotteshaus umfasst gleichzeitig den Golgathafelsen, den Salbungsstein und die Grabkammer nebst vieler weiterer bedeutender Orte, die sich unter ihren Gewölben befinden. Über dem Bruch im Felsen des Kreuzigungsortes steht heute ein Altar; man berührt den Stein durch ein Loch in der Marmorplatte, der Rest des Felsens liegt hinter Glas. Im gleichen Bau umschließt das Aedicula6 wie eine steinerne Kapsel die Felsnische – eine Art Matrjoschka eines Solitärbauwerks in einem größeren Bauwerks.
Ein zweiter Typus sind die Geburts- und Grabstätten, die durch einen Punkt im Boden fixiert werden: In der Geburtskirche von Bethlehem markiert ein 14-zackiger Silberstern im Marmorboden den Geburtsort Jesu – durch die Öffnung in der Mitte können Pilger den Fels darunter berühren. In Rom wiederum wurden die großen Basiliken über den Gräbern der Apostel als vertikale Achsen gebaut: St. Peter über dem Petrus-Grab im ehemaligen Vatikan-Nekropol, der Hochaltar genau über der Grabstätte; St. Paul vor den Mauern über seinem Sarkophag.7 Hier ist der „heilige Boden“ nicht spektakulär sichtbar wie in Jerusalem, aber das ganze Raumgefüge ist auf einen Punkt unter dem Altar zentriert – die Erde selbst wird zur unsichtbaren Reliquie.
Und dann gibt es die „materialisierten“ Wegstücke wie die Scala Sancta in Rom etwa – jene Treppe, die nach aus dem Prätorium des Pilatus stammt – ein importiertes topographisches Fragment; die Marmorstufen mit den Blutspuren Christi wurden in ein eigenes Gebäude eingebaut und sind heute von Holz verkleidet, nur kniend begehbar. Martyrerorte wie der Platz der Hinrichtung des Paulus oder der Schrein für den im 12. Jahrhundert Thomas Becket in Canterbury funktionieren ähnlich: Ein Flecken Erde, Weg, Pflaster oder Felsen wird fixiert, inkrustiert und liturgisch aufgeladen.
Der Mechanismus hinter dieser Sakralisierungspraxis scheint klar zu sein: Im Felsendom erhebt die goldene Kuppel den Anspruch, dass hier Himmel und Erde einander berührt haben; in der Blutskirche erhebt die goldene Kuppel des Glockenturms den ermordeten Monarchen zum Heiligen einer nationalen Opfermythologie. So unterschiedlich die Traditionen sind, verwandeln beide Bauten rohe Faktizität – Felsen und Pflaster – in einen sakral gefassten Brennpunkt kollektiver Identität. Architektur fungiert hier weniger als Hülle eines Kultes, sondern als Apparatur der Überhöhung: Sie friert Kontingenz ein, vergoldet sie und erklärt sie zur unumstößlichen Mitte, um die sich von nun an Geschichte, Frömmigkeit und Macht zu drehen haben.

Material und Technik
Das vorliegende Aquarell entstand auf Basis einer Photographie aus meinem zweiwöchigen Urlaub in Sankt Petersburg 2019. Die Aquarellarbeit nahm insgesamt drei Jahre in Anspruch und wurde im Frühjahr 2021 mit ihrem Freischneiden aus dem Aquarellblock fertiggestellt. Verglichen mit der Bauzeit war das noch sehr schnell… Die Kostbarkeit des verwendeten Materials der Originalvorlage, der Blutskirche, wird im Material der Arbeit aufgegriffen: Petersburger Aquarellfarben der Marke Nevskaya Palitra auf editiertem, besonders schwerem und dichten Hahnemühle-Papier, das anlässlich des 375-jährigen Bestehens der High-End-Marke für Aquarellpapier erschienen ist. Die Petersburger Aquarellfarben wurden mit traditionellem Gummiarabikum und Bienenhonig als Binder hergestellt, während viele handelsübliche westliche wie auch außereuropäische Marken den Honig heute durch chemische Feuchthaltemittel ersetzen. Die Petersburger Farben verfügen über eine natürliche Leuchtkraft und sind besonders UV-resistent. Die in Mischtechnik gefertigte Arbeit wurde durch polychrome Stifte aus einem 144-teiligen Set der südböhmischen Marke KOH-I-NOOR Hardtmuth ergänzt. Hinzu kamen Acrylfarben von Schmincke PRIMAcryl und Lascaux Artist. Besonders für die zahlreichen Stadtwappen auf der Kirchenfassade wurden dem traditionell hergestellten Aquarell Altgold, Silber, Bronze, Perlmutt und diverse metallisch-glänzende Farbtöne auf synthetischer Acrylharz-Basis beigemischt. Gehöht wurde die Arbeit mit Blattgold.
- Собор Спасa на крови [sɐ.ˈbor ˈspasə nɐ krɐ.ˈvʲi] zu Deutsch: „Kirche des Erlösers auf dem Blut“ ↩︎
- Народная воля [nɐ.ˈrod.nə.jə ˈvo.lʲə] zu Deutsch: „Volkswille“ oder „Volksfreiheit“
Die sozialrevolutionäre Geheimgesellschaft verband ein agrar-sozialistisches, populistisches Programm mit einer neuen Qualität politischer Gewalt: Sie forderte ein Ende der romanowschen Monarchie, die gemeinhin als Zarenherrschaft firmierte, wenngleich der Titel infolge der petrinischen Reformen seit 1721 nicht mehr offiziell geführt wurde. Zur Durchsetzung ihres für die damaligen Verhältnisse radikalen Forderungskataloges scheute die konspirativ organisierte Gruppierung nicht vor terroristischen Mitteln, darunter spektakulären Attentaten.
Nach ihrer Zerschlagung wurden die meisten führenden Köpfe dieser Gruppierung hingerichtet, zu langer Festungshaft verurteilt oder flohen ins Exil. Der Rest ging menschlich wie politisch in neuen fundamentaloppositionellen bis revolutionären Strömungen auf. Trotzdem wirkte die Gruppe lange nach und wurde später zum Vorläufer einer vermeintlich „revolutionären Avantgarde“ stilisiert.
Die Selbstdarstellung als reine Kämpfer für freie Wahlen und Verfassungsrechte greift dabei zu kurz. Ihr Programm enthält zwar einen bemerkenswert modernen Katalog politischer Freiheiten, ist aber zugleich von Umstrurz und Machtergreifung durchtränkt. Die kleine, konspirative Minderheit beansprucht, „im Namen des Volkes“ zu sprechen, entscheidet über Leben und Tod des Monarchen und hofft, durch Schock und Destabilisierung eine von ihr gewünschte Ordnung auszulösen. In diesem Sinn steht die „Volkswille“-Bewegung irgendwo zwischen idealistischer Freiheitsbewegung und Projekt zur Machtergreifung durch eine selbsternannte revolutionäre Elite – und die Blutskirche konserviert räumlich genau diese Ambivalenz, indem sie das Attentat in eine sakrale Dynastie-Legende der Romanows verwandelt. ↩︎ - Der zum Zeitpunkt des Attentats auf Alexander II. nach Katharina der Großen benannte Kanal wurde 1923 nach Александр Сергеевич Грибоедов [ɐlʲɪkˈsandrə sʲɪrˈɡʲe(j)ɪvʲɪt͡ɕ ɡrʲɪbɐˈjedəf] (auf Deutsch: Alexander Gribojedow) umbenannt, einem Diplomaten, Dramaturgen, Linguisten und Komponisten — kurzum einem Universalgenie, dessen Leben ebenso wie das von Alexander II. ein gewaltsames Ende im Kontext seiner politischen Tätigkeit fand. Gribojedows Ende war die Folge einer explosiven Mischung aus persischen Kriegsreparationen und aus der als sakrilegische Provokation empfundenen Weigerung der russischen Seite, einen aus dem Harem des Schahhofes geflohenen armenischen Eunuchen und mitsamt den flüchtigen Armenierinnen auszuliefern. Armenien unterstand der russischen Krone. ↩︎
- Alexander II. wird in der russischen Erinnerungskultur als „Befreier-Zar“ (Царь-Освободитель [t͡sarʲ ɐsvɐbɐˈdʲitʲɪlʲ]) bezeichnet, weil er 1861 die Leibeigenschaft aufhob, durch weitreichende Reformen in Justiz, Verwaltung und Militär die Stellung der Bauern grundlegend verbesserte und zugleich durch den Russisch-Türkischen Krieg von 1877/78 maßgeblich zur Befreiung Bulgariens von der osmanischen Herrschaft beitrug. ↩︎
- Vorliegend erlaube ich es mir, einen Begriff aus der christlichen Sakralbaukunst zu verwenden, um eine Moschee zu beschreiben. Das Ambulatorium (von lateinisch ambulare für „gehen“) ist eine zusätzliche Raumschicht um den Chor. Sie kommt meistens bei mehrschiffigen Kirchen vor, weil die Seitenschiffe um den Altar weitergezogen werden und in eine Art Chorumgang übergehen. ↩︎
- Ursprünglich ein römischer Hausaltar, dient die Aedikula als Motiv für zahlreiche Grabmäler. Der Begriff ist ein Deminutiv für einen Tempel dar. Aedes bezeichnet im Lateinischen ursprünglich ein (heiliges) Bauwerk oder Tempel. ↩︎
- Gemeint ist hier die Kirche Sankt Paul vor den Mauern in Rom. ↩︎


