Am Anfang dieser Arbeit steht ein Missverständnis, das älter ist als jede zeitgenössische Ikonen-Paraphrase: die Neigung, den Metallüberzug für die Ikone selbst zu halten. In Museumsdepots und Auktionskatalogen tritt der „оклад [ɐˈklad] – Oklad, Ikonenüberzug / Ikonenbekleidung“ längst als eigenständige Gattung auf – Silber, Filigran, Email, sauber klassifiziert nach Stilen und Werkstätten –, während das bemalte Holzbrett dahinter zur bloßen Trägerfläche herabgestuft wird. Die historische Schutzhaut der Darstellung hat sich zu einem autonomen Objekt der Zierkunst verselbständigt. In diesem Verschachteln von Vordergrund und Hintergrund – Metallhaut und darunter verborgener Malerei – liegt jene Verschiebung, die im Blick auf das Turiner Grabtuch immer wieder beschrieben worden ist: Das Gesicht erscheint nicht mehr als bloße anatomische Vorderseite, sondern als „Antlitz in der Welt“1, als Ort, an dem sich Identität nicht bloß zeigt, sondern gleichsam herstellt. Genau hier setzt das Acrylbild (60 × 60 cm) ein und dreht die Perspektive ein weiteres Mal: Es zeigt nicht den Oklad ohne Ikone, sondern einen Menschen als freigelegte innere Schicht unter einer erdrückenden Metallarchitektur. Das Gesicht der Dargestellten erscheint gleichsam als moderner „лик [lʲik] – Lik, das heilige Antlitz“, eingefasst in ein Gefüge aus Ketten, Steinen und Goldtönen, das wie ein säkularer Oklad über ihr hängt. Der Blick ist frontal, ruhig, unnachgiebig – nicht psychologisch tastend, wie im westlichen Porträt, sondern in einer merkwürdigen, beinahe liturgischen Unbeteiligtheit verankert. Das Bild tut so, als sei der lebendige Körper die Ikone, über der sich ein spätkapitalistischer Schmuck-Oklad schließt.
Der Oklad gehört zu jenen Praktiken, die die Ikonenmalerei der Ostkirchen grundlegend von der westlichen kirchlichen Bildtradition unterscheiden. In der orthodoxen Welt ist die Ikone nie nur Bild, sondern Kultträger: ein theologisch aufgeladener Gegenstand, dessen Erscheinung durch eine ganze Infrastruktur von Hüllen und Gehäusen organisiert wird. Neben dem Oklad selbst stehen der „риза [ˈrʲizə] – Riza, das Metallgewand“ und der „киот [kʲɪˈot] – Kiot, der hölzerne Ikonenschrein“, die Fassung, in der Ikonen an Wänden, in Hauswinkeln und vor allem im liturgischen Raum aufgehoben sind. Während die westliche, insbesondere seit der Renaissance geprägte Kirchenkunst das Bild als illusionistisches Fenster versteht – mit Zentralperspektive, Lichtquelle, erzählerischer Tiefe –, insistiert die Ikone auf einer anderen Logik: keine auf den Betrachter ausgerichtete Raumkonstruktion, sondern eine flächige Präsenz; kein dramatisches Helldunkel, sondern ein inneres, gleichmäßig verteiltes Leuchten; keine Individualpsychologie, sondern Typus. Das Gesicht ist hier weniger empirisch zu untersuchendes Objekt als Schwellenfigur zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem.2 Der Oklad radikalisiert diese Haltung. Indem er die Malerei mit Metallplatten und Edelsteinen umkleidet, entzieht er dem Bild einen Teil seiner Sichtbarkeit, um seine kultische Funktion zu steigern: Was uns verborgen bleibt, ist nicht minder wichtig, sondern im Gegenteil das eigentlich Heilige. In dieser Perspektive ist der Oklad kein dekorativer Zusatz, sondern die sichtbare Organisation einer Unsichtbarkeit, die das Bild zugleich schützt, rahmt und als verehrungswürdiges Objekt markiert.
Das vorliegende Acrylbild übersetzt diese ostkirchliche Dialektik von Bedeckung und Offenbarung in eine zeitgenössische Bildsprache. Die Frau, in ein gedämpftes Grün gehüllt, sitzt vor einem dunklen, unbestimmten Grund, der jede klare räumliche Verortung verweigert – eine Art säkularer Ersatz für den Goldgrund der Ikone. Über ihrem Kopf und ihren Schultern lagert sich ein Geflecht aus Ketten, Steinen, Metallteilen, Ringen: eine improvisierte Riza aus alltäglichen, weltlichen Kostbarkeiten. Das Kostbare rückt das Gesicht ins Zentrum und droht es zugleich zu überformen. Die Hände sind sorgfältig modelliert, die feinen Übergänge der Haut, die leichte Röte der Lippen verweisen auf eine westliche Porträttradition, die das Individuum und seine psychische Präsenz ernst nimmt; doch die strenge Frontalität, die ruhige Achsigkeit und die Abwesenheit jeder beiläufigen Geste gehören eindeutig in die Welt der Ikone. Indem die Arbeit die Logik des оклад [ɐˈklad] – Oklad auf die Gegenwart überträgt, wird der Körper zur Trägerfläche eines neuen, hybriden Kultes: Der Mensch erscheint als Ikone seiner eigenen gesellschaftlichen Zuschreibungen, seiner Rolle, seines Status – eingehüllt in einen Metallmantel, der zugleich Schutz, Last und Kommentar ist. In dieser Konstellation wirkt die Ikone – und mit ihr der Oklad – wie ein Konzentrationspunkt jener Fragen, die unter dem Titel Vom Antlitz in der Welt verhandelt werden: die Unmöglichkeit, das Gesicht eines Menschen je restlos in Wissen, Bild oder Glaubenssatz aufzulösen.3 In dieser Spannung zwischen ostkirchlicher Bildtheologie und westlicher Porträtkunst entfaltet sich die eigentliche Pointe der Arbeit: dass jedes Gesicht ein potentielles Kultbild ist, dessen Würde sich gerade daran zeigt, wieviel Hülle es erträgt, ohne darin völlig zu verschwinden.

Acryl (Gold, Silber, Bronze, Aquamarin) auf Baumwollmischgewebe, 60 × 60 cm, signiert u. r.
Darstellung eines byzantinischen Bildnisses
Inv.-Nr. DY-2023-A-001
© Daniel Yakubovich.
- Markus von Hänsel-Hohenhausen, Vom Antlitz in der Welt. Gedanken zur Identität im 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2005 (18.–40. Tsd. 2007), Reihe „Silhouetten aus dem Großen Hirschgraben“. ↩︎
- Ders., Die Koordination von Wissen und Glauben (Coordinate Magisteria), o. O. o. J., Online-Publikation. ↩︎
- Ders., Vom Antlitz in der Welt. Gedanken zur Identität im 21. Jahrhundert, a. a. O. ↩︎
