Über die moralische Selbstlähmung der Gemeinden, das Verbot, die eigenen blinden Flecken auszusprechen, und darüber, warum innerjüdische Kritik heute radikaler gilt als jede äußere.

Nach dem Abschluss der entwurfspraktischen Arbeit wurde der Diskurs nicht beendet, sondern vielmehr bewusst in weitere Bahnen gelenkt. Neben der Publikation der Arbeit in erweiterter Buchform und der gezielten Ansprache potentieller Diskurspartner wurde der Versuch unternommen, eine breite, auch institutionell getragene Auseinandersetzung über die 2022 bestehenden Rekonstruktionsbestrebungen anzustoßen. Dabei wurde die Schwierigkeit deutlich, institutionelle Reflexionsräume zu öffnen, wenn es um die kritische Begleitung erinnerungspolitisch aufgeladener Bauprojekte geht.
Paradox der Erinnerungskultur
Im gegenwärtigen Diskurs offenbart sich ein bemerkenswertes Paradox: Während sich viele Stimmen im öffentlichen Raum aufrichtig um Anerkennung jüdischer Präsenz bemühen, scheint zugleich ein tiefsitzendes Unbehagen zu bestehen, wenn diese Präsenz sich kritisch zur Geste ihrer eigenen architektonischen In-Szene-Setzung äußert und wenn jüdische Stimmen diese Formen hinterfragen. Der Wiederaufbau historischer Synagogen wird nicht selten als versöhnungsstiftende Geste verstanden – als symbolischer „Akt der Wiedergutmachung“ in einem Land, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg als zivilisatorischen Bruch neu zu verorten sucht.
Rekonstruktion als Beruhigungsbühne
Gerade hierin liegt eine Gefahr: Wenn die Rekonstruktion zur moralischen Entlastung gerinnt, droht sie ihre kritische Widersprüchlichkeit zu verlieren. Es entsteht der Eindruck, dass sich viele Vertreter der vom Bau einer neuen Synagoge betroffenen Gemeinde an die Macht und die Mächtigen heranschmiegen, während zugleich jene Stimmen, die von jüdischer Seite eine substantielle, auch ästhetische Auseinandersetzung mit dem Heute einfordern, ins Abseits geraten. Tragischer noch ist die Beobachtung, dass jüdische Vertreter aus Angst vor Missdeutung oder strukturellem Ausschluss mitunter selbst bereit sind, einen Konsens mitzutragen, der die tiefere Frage vorzeitig beantwortet, anstatt sie zu stellen – wie jüdische Gegenwart im Stadtraum sichtbar werden soll. Man lobt das Kleid – doch keiner merkt, dass der König nackt ist.
Mitverantwortung jüdischer Gemeinden
So entsteht ein eigentümlicher Doppelkontrakt: Man arrangiert sich mit einer politischen Ordnung, die einerseits Bekenntnisse zur „Staatsraison Israel“ — unabhängig von ihrer Sinnfälligkeit oder Legitimität — formuliert und zugleich, über direkte und indirekte Finanzströme, Organisationen zu stützen scheint, die mit jener Raison denkbar wenig anfangen können. Während Synagogenfassaden rekonstruiert, Gedenktafeln poliert und die Lehren aus der Vergangenheit pathetisch betont werden, zeigt sich eine erstaunliche Gleichgültigkeit gegenüber den sehr konkreten Bedrohungen, denen Juden in der Gegenwart ausgesetzt sind. Die vielbeschworene „Erinnerungskultur“ gerät so in die Nähe einer politischen Photographie, die das Bild des toten Juden in hoher Auflösung konserviert, während der lebendige Jude, der Sicherheit, Schutz und zuweilen auch unbequeme politische Konsequenzen einfordert, im unscharfen Hintergrund verschwindet. Vor diesem Hintergrund wirkt die Bereitschaft zahlreicher offizieller Repräsentanten jüdischer Gemeinden, sich eng an jene politische Klasse zu binden, die seit Jahren eine großzügige Immigrationspolitik gegenüber Staaten mit tief verankertem Antisemitismus betreibt, wie eine eigentümliche Form der Selbstgefährdung durch Loyalität. Spätestens im Moment der öffentlich zelebrierten Merz-Tränen unter der Kippa1 müsste sich – wenigstens mit Blick auf die Sicherheit der Juden – die Frage eines migrationspolitischen Umdenkens aufdrängen: Wenn nicht zugunsten der deutschen Gesamtbevölkerung, so doch aus Sorge vor steigendem muslimischen sowie politisch linken wie rechten Antisemitismus wäre dies Grund genug für einen einwanderungs- und identitätspolitischen Kurswechsel. Dass Antisemitismus zunehmend auch migrantisch und links ist, während die größte nationalistische Gruppierung die türkischen Grauen Wölfe sind, ist bekannt.2
Wenn all dies nun auf den vorliegenden Diskursgegenstand der Rekonstruktion von Synagogen zurück übertragen wird, gewinnt das eingangs beschriebene Paradox eine zusätzliche Schärfe. Die erodierende Sicherheitslage — Ausdruck eines größeren wirtschaftlichen, demographischen und kulturellen Niedergangs — gilt selbstverständlich der Gesamtbevölkerung, doch die Widersprüche offenbaren sich im Umgang mit Juden in besonders karikativer Weise: Juden, die sich zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – aus Angst, aus institutioneller Abhängigkeit oder aus opportunem Harmoniestreben – an genau jene Machtzentren anzuschmiegen scheinen, die durch eine unkritische Einwanderungs- und Identitätspolitik die antisemitischen Gefährdungen im Alltag vergrößern, tragen ungewollt dazu bei, dass die inszenierten Kulissen jüdischer Präsenz als Beweis einer gelungenen „Normalisierung“ gelesen werden können. Man diskutiert hingebungsvoll über Kuppeln, Portale und Ornamentreihen, doch die eigentliche Frage, ob die politische und gesellschaftliche Umgebung diesen Räumen ein lebbares Heute ermöglicht, wird höflich ausgespart. In dieser Konstellation ist der Synagogenbau leicht dazu verurteilt, zum Bühnenbild einer Beruhigungsästhetik zu werden – sorgfältig geplant, teuer gebaut, gut beleuchtet und doch auf gefährliche Weise nackt.
Sinneswandel auf dem Weg vom bloßen Reden zum konkreten Handeln
Rückblickend lässt sich der erratische Weg des Projektes grob skizzieren: Ausgehend von der zunächst laut verkündeten Idee eines „Wiederaufbaus der Synagoge“ – eingebettet in die gesamtdeutsche Rekonstruktionslust zwischen Frauenkirche, Dom-Römer und Stadtschloss – verschob sich der Schwerpunkt allmählich von der Hülle auf das Programm. Dabei wäre Rekonstruktion als solche keineswegs desavouiert: Sie kann, richtig verstanden, ein radikal ernst gemeintes Bekenntnis zur Unwiederbringlichkeit und zum Fortbestand jüdischen Lebens sein, wie es Saleh formuliert. Vor diesem Hintergrund wirkt es eigentümlich, wenn ein Politiker wie Raed Saleh als einer der lautesten Befürworter des Wiederaufbaus auftritt, während sein „lautes Schweigen“ zu den Angriffen vom 7. Oktober 2023 in den maßgeblichen öffentlichen Auftritten und Debatten als irritierende Leerstelle im Diskurs wahrgenommen wird. Doch im Falle Fraenkelufer wurde im Verlauf der Auseinandersetzung immer deutlicher, dass die Rekonstruktion hier weniger Ausdruck einer durchdachten theologischen, erinnerungspolitischen, städtebaulichen oder liturgischen Notwendigkeit war, sondern vor allem eine populistische, intellektuell unausgereifte, symbolpolitische Beruhigungsgeste versprach. An diesem Punkt beginnt die Rekonstruktion, gefährlich harmlos zu werden.
Konsequenterweise mündete das Verfahren schließlich in einen nicht-offenen Wettbewerb, dessen Ergebnis – das künftige Gemeinde- und Kulturzentrum – die historische Synagoge nicht mehr als zu kopierenden Bau, sondern als zeitgenössische Resonanzfigur behandelt. Ob dieser Sinneswandel ohne die vorliegenden Interviews und Kritiken zustande gekommen wäre, lässt sich nicht beweisen; sicher ist nur, dass sich im Übergang von der lauten Rekonstruktionsparole zur geräuschlosen Vergabe ein Sinneswandel abzeichnet. Man hat begriffen – oder zu begreifen begonnen –, dass es nicht genügt, eine tote Kulisse zu errichten, wenn man die Frage nicht stellen will, welche geistesgeschichtlichen Vorstellungen und gesellschaftspolitischen Konstellationen zusammen mit der Architektur rekonstruiert werden, dass die unbequemen Seiten der Geschichte nicht weggebaut werden können und wie jüdische Gegenwart im Stadtraum heute sichtbar, verletzlich und zugleich schützbar sein soll. In diesem Sinne bleibt Rekonstruktion eine mögliche, aber nur eine von mehreren Formen; entscheidend ist, welche Geschichte sie erzählt – und für wen.
Zu den folgenden Rundfunkbeiträgen
Die nachfolgenden Artikel beruhen auf ausgestrahlten Beiträgen zu meiner Arbeit. Diese oszillieren zwischen einer Erläuterung des Entwurfs, der Kritik an der damals beabsichtigten Rekonstruktion der Synagoge (vgl. die Visualisierungen von Dipl.-Ing. Kilian Endres) und der von mir kritisierten Partizipationspolitik gegenüber Fachleuten und Menschen jüdischer Herkunft oder Glaubens. So, wie das Bauvorhaben aufgesetzt und in die Wege geleitet wurde, erhärtete sich der Eindruck, die öffentliche Hand baue – bei aller wohlfeilen Rhetorik und Einbindung der Gemeinden – auf symbolpolitisch-metaphysischer Ebene über tote Juden statt für lebende. Auch bleibt der Eindruck, dass die jüdischen Gemeinden diese Erinnerungskultur aufgrund finanziell-institutioneller Abhängigkeit unterstützen.
Die nachfolgenden Beiträge stellen kein wortgetreues Transkript journalistischer Beiträge dar, sondern eine eigenständige inhaltliche Wiedergabe des Autors. Sofern es die Archivpolitik der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zulässt, sind die noch abrufbaren Beiträge entsprechend verlinkt. Aus urheberrechtlichen Gründen werden die Aussagen der Beteiligten paraphrasiert und in indirekter Rede wiedergegeben. Reihenfolge, Auswahl und Formulierungen folgen der inhaltlichen Struktur des Gesprächs, nicht der technischen Schnittfassung der Originalausstrahlung.
Siehe auch:




- Gemeint ist der Auftritt von Bundeskanzler Friedrich Merz bei der feierlichen Wiedereröffnung der Synagoge Reichenbachstraße in München im September 2025 gemeint. Nach jahrelanger Sanierung wurde die 1931 von Gustav Meyerstein im Stil des Bauhauses und der Neuen Sachlichkeit errichtete und in der Novemberpogromnacht 1938 schwer verwüstete Synagoge als Bauhaus-Juwel neu eröffnet. Merz trat mit Kippa auf und hielt eine emotional aufgeladene Rede über die Verbrechen des Nationalsozialismus, das Wiederaufflammen des Antisemitismus und die besondere Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit jüdischen Lebens; zahlreiche Berichte hoben hervor, dass er während seiner Ansprache mit den Tränen rang. Der Auftritt löste ein breites publizistisches Echo aus, das zwischen der Deutung als authentische Gefühlsäußerung und der Kritik an einem symbolpolitischen Gestus oszilliert, der mit der tatsächlichen Migrations- und Nahostpolitik der Bundesregierung nur begrenzt in Einklang zu bringen sei.
– Bundesregierung: „Kanzler Merz in Synagoge Reichenbachstraße – Ort des Erinnerns und der Zuversicht“, 15.09.2025, online unter: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/merz-synagoge-muenchen-2384336 (letzter Zugriff: 10.12.2025).
– Jüdische Allgemeine: Cordula Dieckmann, „Merz kämpft in Synagoge mit Tränen“, 17.09.2025, online unter: https://www.juedische-allgemeine.de/religion/merz-kaempft-in-wiedereroeffneter-synagoge-mit-traenen/ (letzter Zugriff: 10.12.2025).
– Deutschlandfunk Kultur: „Synagoge in München wiedereröffnet – Merz kämpft mit den Tränen“, Meldung vom 16.09.2025, online unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/synagoge-in-muenchen-wiedereroeffnet-merz-kaempft-mit-den-traenen-106.html (letzter Zugriff: 10.12.2025). ↩︎ - Vgl.
– Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus: Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen, Bericht an den Deutschen Bundestag, Berlin 2017, online unter:
https://stk.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/Politik_und_Verwaltung/StK/STK/Dokumente_Fotos_Antisemitismus/Bericht_des_Unabhaengigen_Expertenkreis_Antisemitismus_Antisemitismus_in_….pdf (letzter Zugriff: 10.12.2025);
– Bundesamt für Verfassungsschutz: Lagebild Antisemitismus 2022/23, Berlin 2024, online unter:
https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/allgemein/2024-05-lagebild-antisemitismus.pdf (letzter Zugriff: 10.12.2025);
– Bundeszentrale für politische Bildung: „Graue Wölfe in Deutschland: Ein türkisches Problem?“, Podcast, o. J., online unter: https://www.bpb.de/mediathek/podcasts/dimensionen-des-aktuellen-rechtsextremismus/548853/graue-woelfe-in-deutschland-ein-tuerkisches-problem/ (letzter Zugriff: 10.12.2025);
– Bundesamt für Verfassungsschutz: Türkischer Rechtsextremismus – Die „Grauen Wölfe“ in Deutschland, Broschüre, August 2023, online unter:https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/auslandsbezogener-extremismus/2023-08-tuerkischer-rechtsextremismus-die-grauen-woelfe-in-deutschland.html (letzter Zugriff: 10.12.2025). ↩︎




