Ornament und Gedächtnis –Teil I.
Über die Stadt als Archiv, das Ornament als Speicher, die Entstuckung als kollektive Amnesie
Er erblickte Wien zum ersten Mal, als andere es zum letzten Mal sahen: aus der Luke eines Panzers, zwischen Rauchschwaden, Ruß und berstenden Mauern. Mein Urgroßvater, Michail Sitnikow (Михаил Ситников; 1923–1993)1, war an der Einnahme Wiens durch die Rote Armee beteiligt. Obwohl er – wie so viele seiner Generation – nur selten und ungern über den Krieg sprach, erwähnte er meiner Mutter gegenüber später dennoch mehrfach, wie schön die Stadt gewesen sei. Bemerkenswert ist vor allem die Fähigkeit zu einem kraftvollen Blick, die diese Aussage erst ermöglicht: das Schöne noch zu erkennen – zwischen aufsteigenden Fahnen aus Qualm und Staub, trotz Bränden und Einstürzen, unter andauerndem Beschuss und in ständiger Lebensgefahr. Tatsächlich waren es im April 1945 die Steppenfront und die Südwestfront, die – seit 1943 als 2. und 3. Ukrainische Front der Roten Armee bezeichnet2 – nach erbitterten Straßenkämpfen Wien einnahmen; am 13. April verstummten die Geschütze – der Übergang der Donaumetropole von der nationalsozialistischen Herrschaft unter sowjetische und damit allierte Kontrolle im Zuge der Wiener Operation war vollzogen.
Wenn nicht der Zweite Weltkrieg und die kriegsbedingte Mobilmachung, unter die zahlreiche Schicksale und Biographien auch in der Sowjetunion zwangsweise gerieten, hätte die engen ökonomischen Spielräume meinen Urgroßvater wohl nie nach Königsberg, Prag, Budapest, Wien, Berlin und anschließend in den Fernen Osten zum Kampf gegen den „japanischen Militarismus“ verschlagen. Kriege sind nunmal eminente Triebkräfte der Beschleunigung – kultureller Umwälzungen, sozialer Umbrüche und ethnisch-sprachlicher Grenzverschiebungen, die vor Einzelschicksalen selten Halt machen.
Krieg ist aber mehr als ein menschliches Drama. Krieg prüft die Stadt mit Stahl und Feuer – ein unerbittlicher Lektor, der kürzt und nimmt. Er vernichtet historische Silhouetten, tilgt steingewordene Zeugen, radiert materielle Gedächtnisträger aus, lässt Marginalien im Stadtbild stehen und reißt bisweilen ganze Seiten heraus. Aus diesen Resten von Schönheit erlas mein Urgroßvater eine Bild, deren Monumentalität und Pracht weniger schmückte als bezeugte. Dieser Rest von Schönheit lenkt den Blick weg vom Gefechtsbild hin zum Schadbild – und aus diesem Befund heraus zu einer Stadt, die sich als Archiv der Epochen offenbart. Jede Fassade ein Nachschlagewerk der Zeit, jedes Gesims der Randvermerk einer Epoche, jedes Stuckelement eine Kommentarglosse, jeder Riss ein Eselsohr im Buch des Stadtgedächtnisses, jedes Graffiti ein Palimpsest, das den Entstehungskontext überschreibt.
In diesem Archiv sind Ornamente kein Luxus des Überflüssigen, sondern ein Speichermedium – ein analoges, wetterfestes Gedächtnis der Gesellschaft. Maßwerk, Kartuschen, Zunftzeichen und Hausmarken kodieren Berufe, Privilegien, Glaubenswelten; Gebrauchsspuren, Risse, Steckfugen, Verbleiungen und farbige Übermalungen tragen Zeitstempel. In Wien lässt sich das exemplarisch studieren: Am Michaelertrakt der Hofburg etwa, wo die allegorischen Brunnen Die Macht zur See (Rudolf Weyr, 1895) und Die Macht zu Lande (Edmund Hellmer, 1897) nicht bloß „Zier“ sind, sondern ikonographische Amtssignaturen vergangener Machtansprüche aus Stein; entlang der Ringstraße ordnen Portale, Friese, Embleme und Figuren Programme und Funktionen, sie markieren Adressen, Hierarchien, Zugehörigkeiten. Wien ist UNESCO-Welterbe nicht nur wegen seiner Monumente, sondern wegen der Lesbarkeit ihrer harmonisch aufeinander aufbauenden und einander ergänzenden architekturhistorischen Schichten. Diese Lesbarkeit ist eine öffentliche Ressource.3
Wenn diese Ornamente als öffentliche Gedächtnisträger gelten können, stellt sich umso dringlicher die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass ausgerechnet sie im 20. Jahrhundert zum Verdachtsfall wurden.

Mischtechnik: Aquarell, Graphit und Farbstift auf Karton, 60 × 40 cm (Blatt), signiert u. l.; Darstellung der Karlskirche (Karlsplatz), Wien.
Inv.-Nr. DY-2018-AQ-005
© 2018 Daniel Yakubovich

Aquarell auf Karton, 30 × 40 cm (Blatt), Signiert u. r.; verso bez.
Inv.-Nr. DY-2018-AQ-001
© 2018 Daniel Yakubovich
Wie also ist diese Verdammung des Ornaments zu erklären?
Adolf Loos, eine der streitbarsten Stimmen der Wiener Jahrhundertwende – Architekt, Praktiker einer neuen Bauphilosophie, stilstrenger Essayist und kulturkritischer Polemiker –, formulierte seinen berühmten Vortrag Ornament und Verbrechen, der später als Essay4 Verbreitung fand. In dieser kurzen, inhaltlich dichten Schrift, die weniger theoretische Pointe als kulturmoralische Breitseite ist, behauptet Loos, Ornamente verschwendeten Arbeitskraft, Material und Kapital; sie führten im Rekurs auf abgeschlossene Stilepochen zu einer vorzeitigen „Veralterung“ von Gegenständen und belasteten Volkswirtschaft wie Volksgesundheit gleichermaßen. Zugleich moralisiert er, indem er den Tätowierten zum „latenten Verbrecher“ erklärt. Folgerichtig schlussfolgert der Architekt und Wegbereiter einer modernen Architektur, „Kulturfortschritt“ müsse die Eliminierung des Ornaments aus den Gebrauchsgegenständen bedeuten. Freilich ließe sich entgegenhalten, dass es eine höchst streitbare These ist, inwieweit Fortschritt mit einer Reduktion und Purifikation der Formensprache gleichbedeutend sei. Eine komparatistische Gegenüberstellung von Kulturen zeigt – ganz im Sinne Oswald Spenglers –, dass ihr Reifegrad nicht mit einer ornamentalen Simplifizierung und Verarmung, sondern eher mit einer zunehmend ausdifferenzierten und komplexen Formsprache korreliert, die sich als Echo zunehmend komplexer sozialer Gefüge und Rechtsstrukturen auch in Architektur und Gebrauchsgegenständen niederschlägt.5 So plausibel diese „Kulturkurve“ erscheinen mag, so problematisch bleibt doch diese biologistisch-organismisch angehauchte Denkfigur, die historische Zufälle und Zäsuren (Kontingenz) zugunsten eines scheinbar naturgesetzlichen Auf- und Abstiegs relativiert.6
So mündete ein Prozess, der mit der Industrialisierung, Mechanisierung der Bauproduktion und der Emanzipation vom Handwerk einsetzende, in jene Kampfansage, die sich später in der flächenhaften Entstuckung von Fassaden niederschlagen sollte. Die Stoßrichtung von Loos’ Polemik und Kulturkritik richtet sich dabei gegen den historistischen Eklektizismus der Gründerzeit ebenso wie gegen den Jugendstil und die Secession, die sich – trotz teilweiser Weiterführung des historistischen Formenrepertoires – bereits als Reform- und Gegenbewegung verstanden. Diese Kritik wurde zum Bezugsrahmen, innerhalb dessen sich der Purismus der Klassischen Moderne entfalten konnte. Über das 1919 in Weimar gegründete Bauhaus und die sich seit Mitte der 1920er Jahre herausbildende Neue Sachlichkeit kristallisierte sich ein Formenkanon flacher Fassaden und auf Rationalisierung wie Standardisierung abgestimmter Planung heraus. Das Ornament wurde zum Epiphänomen einer Epoche, deren Bildervorräte erschöpft scheinen, und geriet in die defensive Ecke des Überflusses und Überdrusses. Diese Abwertung setzte sich über Nachkriegsmoderne, seriellen Massenwohnungsbau in Fertigteilbauweise7 und sanierte Innenstädte hinweg bis tief ins späte 20. Jahrhundert fort, wo sie in jene scheinbar selbstverständlichen Gestaltungsmaximen übergeht, die noch heute jede sichtbare Pracht rechtfertigungspflichtig machen.

Welche Bilanz ist hundert Jahre später zu ziehen?
Hat der Verzicht auf das Ornament die Volkswirtschaft tatsächlich reicher gemacht, oder ist — bei allen materiellen Zuwächsen — eine ästhetische und urbane Verarmung zu verzeichnen, während die Planungs- und Baupraxis komplexer und technisch aufwendiger, folglich teurer, aber nicht notwendig qualitätvoller wurde? Hat dieser Verzicht die Gesundheit gefördert oder bezeugen gerade Quartiere mit intakter gründerzeitlicher Struktur, dass Atmosphäre, Stofflichkeit und handwerkliche Lesbarkeit zum Wohlbefinden beitragen? War Ornamentarbeit bloße Arbeitszeitverschwendung — oder war sie eine Schule für Hand, Auge und Kopf, deren Verlust sich im Alltag einer digitalen Zerstreuungsökonomie bemerkbar macht? Und wenn die Zeitersparnis als Begründung galt – wofür ist die gewonnene Zeit tatsächlich aufgewendet worden?
Gegen Loos’ Verdikt lässt sich ein härteres Argument formulieren: Ornament verschwendet nichts, es bewahrt. Es bewahrt vor dem „Verlöschen des eigentlich Städtischen, das von Babylon bis zum kaiserzeitlichen Berlin durchhielt und ein besonderes Wohngefühl, nämlich: das emotionale Stadterlebnis, möglich machte.“8 Sein Materialwert ist geringer als sein Informationswert. Es kollationiert Fassaden wie Textzeugen. Der Blick nach Berlin zeigt: Seit Wolf Jobst Siedler9, Elisabeth Niggemeyer und Gina Angress in Die gemordete Stadt (1964) den Nachkriegs-Städtebau und die Entstuckung als Akte kollektiver Amnesie beschrieben, lässt sich Ornament nicht mehr als bloßer Zierrat missverstehen, sondern als Speicher. Historisch begann die aktive Entstuckung in Berlin in den 1920er Jahren, unter anderem von Protagonisten des Neuen Bauens getragen. Der große Kahlschlag sollte in Ost wie West jedoch vor allem in den 1950er bis 1970er Jahren einsetzen – mit teils ideologischen, teils sicherheitstechnischen, teils modeästhetischen Motiven. In belegten Einzelfällen zahlten Berliner Bauämter sogar für Entstuckungen; ein förmliches, flächendeckendes „Entstuckungsprogramm“ gab es jedoch nicht.10 Zugleich setzte 1964 – im selben Jahr wie Siedlers Buch11 – unter Senatsbaudirektor Werner Düttmann eine Kehrtwende ein: die stadtentwicklungspolitische Leitlinie verschob sich zugunsten der Erhaltung historischer Fassaden; erste „geschützte Baubereiche“ wurden ausgewiesen und Zuschüsse zur Instandsetzung gewährt; in Ost-Berlin schwankte die Haltung ähnlich zwischen Glättung „bürgerlicher Maskerade“ und späterer, zum Teil mustergültiger Wiederherstellung eines intakten Stadtgewebes durch die Imitation einer historischen Kontinuität mittels kleinteilig parzellierter Bebauung mit überwiegend giebelständigen Häuschen (Nikolaiviertel) oder den Altbausanierungen in der Sophien- und Husemannstraße12 – freilich oft als Inseln im weiter fortschreitenden Verfall. Im Rückblick bleibt Berlin vor allem wegen des Ausmaßes der Tilgung ein Negativbeispiel: ganze Straßenzüge, die ihr Anlitz verloren und dem Zeitgeist entsprechend „todmodernisiert“ wurden13; mit ihnen verschwanden jene Reliefschichten aus Fensterverdachungen, Schlusssteinen, Gurtgesimsen, Lisenen, Bossenquadern, Balustraden, Rosetten, Zahnschnitt- und Eierstabprofilen, Reparaturnähten sowie Ruß- und Kriegsspuren, in denen sich eine ortstypische Berliner Identität und die Erinnerung an den rasanten industriellen Aufschwung der Kaiserzeit sedimentiert hatten.

Aquarell auf Karton, 30 × 40 cm (Blatt), Signiert u. l.
Inv.-Nr. DY-2018-AQ-002
© 2018 Daniel Yakubovich
Was im Berliner Straßenraum wie ein ästhetischer Aderlass wirkt, ist mehr als eine Frage des Geschmacks: Wo Fassaden geglättet und Ornamente abgeschlagen wurden, ist nicht nur Dekor entfernt worden, sondern Syntax aus dem Stadtgedächtnis radiert; die Häuser verlieren jene zweite Sprache, in der sie einst von Lasten, Kräften, Rangordnungen und Hoffnungen erzählten. Entstuckung erweist sich damit als doppelte Operation – als physische Tilgung von Relief und als semantische Entleerung – und führt in eine urbane Gegenwart, in der der Streit um Ornament und „Schmuck“ oft als bloße Stilfrage verhandelt wird, obwohl in Wahrheit die Frage auf dem Spiel steht, ob Architektur weiterhin etwas mitzuteilen hat. Um zu begreifen, was genau vernichtet wird, wenn Gesimse, Profile und Kartuschen als Überfluss diffamiert und abgeschlagen werden, ist es notwendig, einen Schritt zurückzugehen: zur Herkunft des Ornaments, um zu beurteilen, ob das vermeintliche „Verbrechen“ der Moderne vielleicht gerade darin besteht, diese Grammatik missverstanden zu haben.

- Michail Andrianowitsch Sitnikow (russ. Михаил Андрианович Ситников, [mʲɪˈxajl ɐndrʲɪɐˈnovʲɪt͡ɕ ˈsʲitnʲɪkəf], *20.11.1923, †23.11.1993) war Unteroffizier im Unteroffiziersdienstgrad mladšij seržant (младший сержант) der Roten Armee, Funkspezialist einer Kleinfunkstation und leitender Funktelegraphist (старший радиотелеграфист). Von 1942 bis 1947 stand er im aktiven Kriegs- und Militärdienst; im April 1945 wurde er durch Verwundungen von Brustkorb und rechtem Oberschenkel verletzt. Sein Rücken war zeitlebens mit kleinteiligen Splitterverletzungen übersät. Er wurde mit dem Orden des Roten Sterns (орден «Красная Звезда») sowie mit mehreren Frontorden und -medaillen ausgezeichnet, darunter die Medaillen „Für Kampfverdienste“ (медаль «За боевые заслуги»), „Für Tapferkeit“ (медаль «За отвагу»), „Für die Einnahme von Budapest“ (медаль «За взятие Будапешта»), „Für die Einnahme von Königsberg“ (медаль «За взятие Кёнигсберга»), „Für die Befreiung Prags“ (медаль «За освобождение Праги»), „Für den Sieg über Deutschland“ (медаль «За победу над Германией») und „Für den Sieg über Japan“ (медаль «За победу над Японией»). ↩︎
- Die sowjetischen „Fronten“ waren Heeresgruppen, deren Bezeichnungen sich in der Regel an geographischen Räumen und Operationsrichtungen orientierten. Die seit Sommer 1943 im Raum südlich von Kursk und entlang des „Steppengürtels“ bei Woronesch (russ. Воронеж [vɐˈronʲɪʂ]) eingesetzte Steppenfront sowie die im südwestlichen Abschnitt der Ostfront operierende Südwestfront erhielten ihre Namen aus diesen Einsatzräumen. Im Zuge der Dnjepr-Offensive und der fortschreitenden Befreiung der Ukraine ordnete das Oberkommando der Roten Armee am 20. Oktober 1943 eine Umbenennung der südlichen Fronten an: Aus der Steppenfront wurde die 2. Ukrainische Front, aus der Südwestfront die 3. Ukrainische Front, um den nun zentralen Operationsraum Ukraine und den Beginn einer neuen Phase des Krieges im Süden des Ostheeres auch begrifflich zu markieren. ↩︎
- UNESCO World Heritage Centre, „Historic Centre of Vienna“ (World Heritage List, Property 1033), UNESCO World Heritage Centre, https://whc.unesco.org/en/list/1033/ (Zugriff am: 5. Oktober 2025). ↩︎
- 1908; in einer Fassung von 1910–1913 publiziert ↩︎
- Historisch lässt sich für viele Hochkulturen durchaus beobachten, dass mit wachsender Komplexität von Staatswesen und Bürokratie, Glaubensvorstellungen und gesellschaftlichem Etikett, Arbeitsteilung und Produktion auch die Formensprache differenzierter wird:
– Ägypten: von einfachen Grabformen zu hochkomplexen Tempel- und Grabanlagen mit reich entwickelter Bildsprache.
– Griechenland: Entwicklung von archaischen Formen hin zu elaborierten Ordnungen (dorisch – ionisch – korinthisch), differenzierter Proportionstheorie, figürlichem Skulpturenschmuck.
– Gotik vs. Frühromanik, Barock vs. Renaissance: jeweils Zunahme an Bewegtheit, Detailreichtum, räumlicher und ikonographischer Dichte.
– Auch im Kunstgewerbe: Keramik, Textilien, Metallarbeiten werden mit zunehmender Spezialisierung oft komplexer dekoriert.
Oswald Spengler argumentiert in seinem zum Hauptwerk erklärten Doppelband vom „Untergang des Abendlandes“ tatsächlich mit solchen Analogien: Kulturen entfalten im „Aufstieg“ ihre eigentümliche Symbolik und Ornamentik immer reicher und differenzierter; erst nach dem Überschreiten eines Zentis setze eine Phase „zivilisatorischer Erstarrung“ ein, die in Rationalisierung, Abstraktion und Ermüdung der Formen mündet.
Aber es gab auch Gegenbewegungen und bewusste Vereinfachungen – die klassizistische Beruhigung gegenüber dem Späthellenismus ebenso wie asketische Stränge der Moderne. Daher wäre es unterkomplex zu behaupten, dass alle Kulturen im Fortschritt zu Ornament und Komplexität strebten. Solche Gegenbewegungen und bewussten Vereinfachungen – die klassizistische Beruhigung gegenüber dem Späthellenismus ebenso wie asketische Stränge der Moderne – erscheinen im größeren historischen Maßstab eher als kurzfristige Kursschwankungen auf einer langfristigen Kurve, die, im Sinne Spenglers, den Lebenszyklus von Kulturen beschreibt: mit Aufschwüngen und Einbrüchen, aber einer deutlich erkennbaren Tendenz hin zu immer komplexeren Form- und Zeichensystemen, bevor der „zivilisatorische Winter“ einsetzt. ↩︎ - Ebenso ließe sich argumentieren, dass der Mensch als Teil der Natur seine geistige und kulturelle Entwicklung wie die Natur selbst vollzieht, nämlich als Bewegung entlang des geringsten Widerstandes hin zu jeweils situativen Anpassungen. Im Ergebnis werden Formen und Strukturen hervorgebracht, die in ihrer scheinbaren Simplizität eine immense Komplexität bergen; eine Ausarbeitung dieses Gedankens würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Schrift vollständig sprengen. ↩︎
- Paradigmatisch ist in diesem Zusammenhang Nikita Chruschtschows Abrechnung mit den „Überflüssen“ im sowjetischen Bauwesen: In der Parteiresolution „Über die Beseitigung der Übertreibungen in Entwurf und Bau“ (russ. „Об устранении излишеств в проектировании и строительстве“ – [ɐb ʊstrɐˈnʲenʲɪɪ ɪzʲˈlʲiʂɨstv v prʲɪktʲɪrɐˈvanʲɪɪ ɪ strɐʲɪˈtʲelʲstvʲɪ], 1955) wurden dekorative „излишества“ (russ. [ɪzʲˈlʲiʂɨstvə] – wörtlich „Überflüsse“, „Übertreibungen“) der stalinistischen Ära explizit verurteilt, und im Zuge der Entstalinisierung sowie der offiziellen Kritik am Personenkult wurde eine nüchterne, standardisierte, industrialisierte Bauweise zur doktrinären Norm erhoben – ein politisch verordneter Schulterschluss von Kostendruck, Ideologie und Anti-Ornament-Rhetorik, der die Entwertung des dekorativen Überschusses auf eine neue, großmaßstäblich wirksame Stufe hob. ↩︎
- Elisabeth Niggemeyer / Wolf Jobst Siedler / Gina Angreß, Die gemordete Stadt. Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum, Berlin: Herbig 1964, S. 7: „…das Verlöschen des eigentlich Städtischen, das von Babylon bis zum kaiserzeitlichen Berlin durchhielt und ein besonderes Wohngefühl, nämlich: das emotionale Stadterlebnis, möglich machte.“ – zit. nach Rainer Haubrich, „Architektur: Als Deutschland seine Städte in den Tod trieb“, in: Die Welt, 13.03.2014, online unter: https://www.welt.de/kultur/kunst-und-architektur/article125730087/Architektur-Als-Deutschland-seine-Staedte-in-den-Tod-trieb.html (Zugriff am: 4. Dezember 2025). ↩︎
- Sicher lässt als an dieser Stelle die Geschichtsverzerrung Siedlers im Zuge seiner Veröffentlichung von Albert Speers Tagebüchern kritisieren, die eine geschichtsrevisionistische Grundnote gegenüber dem ehemaligen Reichsminister und GBI der Reichshauptstadt durchzieht. Wir belassen es an dieser Stelle dabei, hier vor allem Siedlers nostalgische Publikationen zu einem untergehenden Abendland anzuführen, auf das er zeitlebens in vielen Publikationen immer wieder zu sprechen kam. Dieser Grundton durchzog seine Schriften wie ein roter Faden bis zu seinem Tod 2013. ↩︎
- Voigt, Andreas W., „Erinnerungen an den großen Kahlschlag des Berliner Stucks“, MieterMagazin Online, Ausgabe 6/2023, Berliner Mieterverein, https://www.berliner-mieterverein.de/magazin/online/mm0623/erinnerungen-den-grossen-kahlschlag-des-berliner-stucks-062314.htm (Zugriff am: 5. Oktober 2025).
Kurzüberblick: Überblicksartikel zur Entstuckung in Berlin mit zeitgenössischen Stimmen (u. a. Theodor Goecke 1896; Albert Gut) und dem Hinweis, dass in den 1950er Jahren in West-Berlin in Einzelfällen bis zu 5.000 DM für Entstuckungen gezahlt wurden; ein flächendeckendes Programm habe es nicht gegeben.
„Von der Fabrikantenvilla bis zur Mietskaserne wollten alle Häuser einem Palast gleichen. Fast jedes Berliner Wohnhaus, das in der Kaiserzeit entstanden ist, hatte eine Putzfassade mit Stuckverzierungen. Dieser Fassadenschwindel wurde entweder belächelt oder auch hart kritisiert. Der Furor, mit dem man ab den 1950er Jahren in Ost und West den Stuck von den Häusern abschlug, erscheint heute allerdings äußerst befremdlich. Das Stadtbild hat durch die rigorose Entstuckung schweren Schaden genommen. […] Stuck erhöhte den Beleihungswert des Hauses.“
„‚Nicht nur das gewöhnliche, sondern auch das sogenannte herrschaftliche Miethshaus steht noch vielfach im Banne einer in gegossenem Gipsstuck angeklebten Monumentalarchitektur‘, schreibt der Architekt Theodor Goecke im Standardwerk Berlin und seine Bauten von 1896. Das hatte auch wirtschaftliche Gründe: ‚Die überreiche Gestaltung der Schauseiten, der Treppenhäuser und Zimmerdecken entspringt oft nur dem Triebe, eine möglichst hohe Einschätzung zur Feuerkasse und damit die Hinaufschiebung der Beleihungsgrenze zu erzielen‘, so Goecke. Eine aufwendige Fassadengestaltung erhöhte die Baukosten um etwa zwei Prozent, steigerte aber den Beleihungswert des Hauses um bis zu 20 Prozent.“
„‚Die Mietskaserne kennzeichnete schon durch ihr Antlitz, daß sie zum Spekulationsgegenstand herabgesunken war, in den Wohnvierteln der kleinen Leute durch lieblose Kasernenarchitektur, in denen der reichen durch protzenhafte Anhäufung von Stuckzieraten‘, kritisierte auch Albert Gut. ‚Jedenfalls stand der überwiegende Teil der Berliner Wohnhausfassaden auf einer so niederen Stufe, daß sie auf künstlerische Bewertung einen Anspruch nicht mehr erheben konnte.‘ […] Die Entstuckungswelle der 50er Jahre war die folgenreichste für das Berliner Stadtbild. Einzelnen Hauseigentümern wurden von den West-Berliner Bauämtern offenbar bis zu 5000 Mark bezahlt, damit sie ihr Gebäude vom Stuck befreien und neu verputzen konnten. Ein regelrechtes „Entstuckungsprogramm“ hat es jedoch nicht gegeben. Der Senat hatte ohnehin geplant, die meisten Altbauten früher oder später zu beseitigen. Fördermittel für Fassadenkosmetik wären da rausgeschmissenes Geld gewesen.“ ↩︎ - Siedler, Wolf Jobst; Niggemeyer, Elisabeth; Angress, Gina, Die gemordete Stadt. Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum (Berlin/München/Wien: F. A. Herbig, 3. Auflage, 1967), insbes. S. 13 ff., 44 ff. ↩︎
- In Ost-Berlin galten insbesondere die Sophienstraße in Mitte und die Husemannstraße in Prenzlauer Berg als Modellstrecken einer „sozialistischen Altstadtsanierung“: Beide Straßen wurden Mitte der 1980er Jahre im Vorfeld der 750-Jahr-Feier 1987 mit großem Aufwand restauriert bzw. weitgehend originalgetreu rekonstruiert und als historische Handwerker- und Gründerzeitstraßen inszeniert, die der DDR-Führung als repräsentative Kulisse für in- und ausländische Gäste dienten. ↩︎
- Voigt, Andreas W., „Fassadenrekonstruktion: Eigentümer geben Altbauten den Schmuck zurück“, Die Welt, 27. April 2013, online unter https://www.welt.de/ (Zugriff am: 5. Oktober 2025). ↩︎

