Ornament und Gedächtnis – Teil III.
Zwischen Nekrophilie und Chirurgie, Normopathie und Bürokrartie
Manchmal wirkt der Umgang mit der historischen Stadt wie eine Form nekrophiler Fürsorge: Wir salben die toten Flächen, legen ihnen neue Sandsteinhauten an, arrangieren sie mit Blumen und Infotafeln und nennen das „Quartiersentwicklung am Molkenmarkt“ oder wahlweise den „Neubau des Archäologischen Hauses am Petriplatz“. Die Reihe an Beispielen ließe sind endlos fortsetzen… Der Stadtkörper ist längst gestorben – Kriegszerstörung, Abrisswellen, autogerechter Umbau. Bald dürfen wir die neuen hergerichteten Häuser umarmen, als sei alles wieder gut, aber die Beziehung ist seltsam: zu intim für eine Kulisse, zu künstlich für ein Leben.
Einen Steinwurf weiter — in Berlin wird bekanntlich nicht nur am 1. Mai in Steinwürfen gemessen: Wer heute durch die neugewachsenen Wohnblöcke nördlich vom Berliner Hauptbahnhof flaniert, darf sich in einer kuratierten Ausstellung wähnen. Jede Fassade ein Ergebnis von Gremien, Leitbildern, Abstimmungen, Gutachten; nichts wurde dem Zufall überlassen, alles wurde verhandelt. Das Resultat ist ein Konsenspanorama, als hätte man Werner Tübke beauftragt, sein Bauernkriegspanorama noch einmal zu malen – diesmal unter Aufsicht eines Gestaltungsbeirats, mit lückenloser Genehmigungslage vor Malbeginn, in BNB-konform durchzertifizierten Farbtönen und mit sorgfältig quotierter Diversity-Statisterie, aber ohne Wut, ohne Blut, ohne Bauern und ohne Krieg.

Nach der großen Entstuckungswelle, die in den vorangegangenen Teilen analysiert wurde, hat sich eine zweite, besser gekleidete Phase der Stadtkorrektur1 etabliert. Wer sehen will, wie eine Gesellschaft ihren eigenen Vandalismus zu heilen versucht, blickt heute auf jene Orte, an denen „es wieder schön geworden ist“: den Pariser Platz, die rekonstruierten Blöcke um das Berliner Schloss, die zahllosen „kritischen Rekonstruktionen“2 und Leitfassaden. Hier werden die Lehren vergangener stadtentwicklungspolitischer Fehlentwicklungen formal berücksichtigt: Traufhöhen schließen den Straßenraum, Profile werfen Schatten, Steinoberflächen versprechen eine würdige Patinabildung.
Und doch bleibt ein eigentümliches Unbehagen. Diese Häuser wirken selten wie selbstverständliche Teile eines organisch gewachsenen Stadtgefüges, sondern eher wie sorgfältig arrangierte Kulissen, in denen ein vergangenes Bild zur Ruhe gebracht werden soll. Es wird weniger ein Haus als ein Konsens zwischen Politik, Denkmalpflege, Investoren und Gestaltungsbeirat gebaut. Die Fassade soll sich „einfügen“, keine Debatte auslösen, touristisch und medial verlässlich funktionieren. Sie beruhigt das schlechte Gewissen gegenüber der zerstörten Stadt, ersetzt aber nicht jene widersprüchliche Fülle, die verloren ging. Sie sieht „alt“ aus, funktioniert aber nicht wie „Alt“-Bau.
Ein Teil der Erklärung ergibt sich aus der entwurfspraktischen Genesis dieser Bauten. Die Fassade wird primär als Bild verstanden, als frontal zu betrachtende Ansicht, als harmonische, politisch und fachlich konsensfähige Oberfläche. Dafür wird ein Mastermotiv definiert und über das gesamte Volumen gezogen. Was im historischen Straßenzug das Ergebnis organisch gewachsener Nachbarschaften war, wird nun in einem einzigen Objekt synthetisch zusammengepresst.3
Damit verliert die Gebäudefront ihren Charakter als Grammatik des Straßenzugs. In den gründerzeitlichen Quartieren war die Fassade ein Wort im Satz: Jedes Haus artikulierte innerhalb eines gemeinsamen Taktes – Traufhöhe, Bauflucht, Parzellengröße – seine eigene kleine Abweichung. Heute wird versucht, den ganzen Satz in einem perfekt polierten Wort zu verdichten. Die Häuser besitzen von Anfang an jene Finalität, die historischen Bauten erst nach vielen Umbauten, Verletzungen und Reparaturen eingeschrieben wurde. Es entsteht eine Architektur, die so sehr darauf bedacht ist, niemandem weh zu tun, dass sie auch niemanden mehr wirklich berührt. Die gern bemühte Gegenüberstellung, man solle „lieber in gute Grundrisse als in schöne Fassaden investieren“, klingt nur auf den ersten Blick pragmatisch. In der Praxis fallen Grundriss und Hülle selten auseinander: Eine Architektur, die sich außen auf das glatteste zulässige Minimum reduziert, erzeugt im Inneren meist ebenso knapp kalkulierte, niedrige, schwer möblierbare Räume. Wo hingegen Sockel, Fensterbänder, Brüstungen und Traufkanten ernst genommen werden, entstehen durch die zwangsläufige Wechselwirkung von Grundriss und Fassade in der Regel fast ebenso zwangsläufig andere Raumhöhen, andere Bezüge zum Straßenraum, andere Übergänge zwischen öffentlich und privat, andere Qualitäten.



Gründerzeit als Produktionsweise, nicht als Stil
Hinzu kommt, dass die Gründerzeit nicht einfach ein Stil war, den man nachahmen könnte, sondern das Ergebnis einer bestimmten Produktionsweise. Die Häuser, die wir heute bewundern, verdanken ihre Wirkung einem Geflecht aus Akteuren, Ökonomien und Zeitläufen: viele kleine Bauherren in Konkurrenz um Mieter, Fassaden als Aushängeschilder für den dahinterliegenden Wohnkomfort, Musterbücher und Stuckkataloge als gemeinsamer Werkzeugkasten, Handwerker, die serielle Elemente kombinierten, abwandelten, übersteigerten. Historismus war eine Liaison von Frühindustrie und Handarbeit, in der Wiederholung und Variation einander bedingten.
Über Jahrzehnte wurden diese Häuser umgebaut, aufgestockt, umgenutzt. Erdgeschosse wechselten von der Werkstatt zum Ladenlokal, Balkone und Aufzüge wurden angebaut, Portale verfremdet, Schilder angeschraubt, Leitungen nachgezogen, Wohnungen geteilt, Seitenflügel teils abgerissen. Die Stadtfronten, die wir heute als „stimmig“ empfinden, sind keine abgeschlossenen Entwürfe, sondern verdichtete Ergebnisse von Spekulation und bürgerlichem Repräsentationswillen, von Baupolizei, Improvisation, Mangel und Überfluss. Ihre Schönheit ist nicht die eines perfekten Plans, sondern die einer unreinen, historisch heterogenen Oberfläche. Wer darin bloß einen weiteren Fall „eurozentrischer“ Verklärung sehen will, mag im Seminar recht behalten, verfehlt aber die konkrete Lage: Die europäische Stadt ist ein Körper, in dem wir leben, arbeiten, altern und sterben. Er kann kritisiert, überformt und weitergebaut, aber nicht durch moralisierende Schlagwörter verbannt werden.
Kritische Rekonstruktion und zeitgenössischer Luxus funktionieren demgegenüber umgekehrt. Sie sind von Beginn an top–down gedacht: ein großes Projekt, wenige Investoren, einige Planerteams, ein einmaliger Entwurf, der alle Konflikte vor Baubeginn im Gestaltungsbeirat und in den politischen Gremien ausverhandelt. Was am Ende steht, ist ein Produkt, das die Widerstände hinter sich hat, nicht in sich. Die Häuser kleiden sich in den Code der Vergangenheit, ohne deren Herstellungsbedingungen zu teilen; die Fassaden sprechen die richtigen Wörter, aber mit der falschen Intonation. Ein Cargo-Kult. Nimmt man diese Differenz ernst, darf ein programmatischer Teil nicht so tun, als ließe sich die Gründerzeit reproduzieren. Er kann nur fragen, wie viel Tiefe, Dichte und Widersprüchlichkeit Architektur unter den Bedingungen der Gegenwart überhaupt noch erreichen kann.
(1) Ein erster Schritt liegt in der Rehabilitierung des Reliefs als Funktion. Entscheidend ist nicht, ob ein Kapitell historisch korrekt ist, sondern ob die Fassade plastisch gegliedert wird und aus den tatsächlichen Funktionen des Hauses entspringt: erkennbarer Sockel, tiefere Leibungen, ausgebildete Brüstungszonen, wirksame Traufkante. Solche Elemente sind keine romantischen Zitate, sondern funktionale Verstärker – sie fangen Regen ab, werfen Schatten, erzeugen Nischen, markieren Übergänge. Sie stellen jene kleinmaßstäbliche Erzählschicht her, die vielen Neubauten fehlt, ohne dass ein einziges Blatt oder eine einzige Maske kopiert werden müsste.
(2) In einem zweiten Schritt kann das Baukastenprinzip ernst genommen werden – nicht im Sinne der gesichtslosen Großplatte, sondern als begrenztes, charakteristisches Repertoire: keramische Formsteine, profilierte Ziegel, gegliederte Betonfertigteile, perforierte Metallpaneele. Wiederholung hält Kosten und Planungskomplexität im Zaum, kontrollierte Varianz erzeugt jene leichte Unruhe, aus der sich adressierbare Häuser bilden, statt endlos derselben Platte. So lässt sich die starre Einheit einer Markenfassade in eine sequenzierte Straßenwand überführen.
(3) Schließlich lässt sich Ornament wieder als Informationsschicht begreifen – nicht als illustrative Bilderzählung, sondern als abstrakte, verdichtete Hinweise auf Ort und Gebrauch. In Stein gravierte Schriftzüge, Reliefbänder mit abstrahierten Werkzeugformen, Spuren verschiedener Alphabete und Muster an Orten der Migration, transformierte Fragmente aus der Nachbarschaft: all dies kann die Fassade in ein öffentliches Archiv überführen, ohne in Folklore zu kippen. Ein Archiv ist dabei kein Katalog fester Bedeutungen, sondern ein offener Speicher: Die Lesarten wechseln, Schichten überlagern sich, manches wird vergessen, anderes neu eingeschrieben – doch gerade diese langsame Akkumulation von Spuren unterscheidet die Stadt von der jederzeit austauschbaren Kulisse. Und selbst das große, investorgesteuerte Projekt kann über vertikale Unterteilungen, differierende Eingangssituationen und nuancierte Materialwechsel in eine Abfolge adressierbarer Häuser übersetzt werden. Die Stadt gewinnt an Körnung, ohne dass das ökonomische Grundmodell aufgegeben werden müsste.
All dies ersetzt weder die verlorene Akteursvielfalt noch die historische Zeit, die Patina und Widersprüche hinterlässt. Aber es markiert eine untere Schwelle: die Möglichkeit, in der Gegenwart Häuser zu bauen, die sich nicht von vornherein als kurzatmige Zwischenlösungen begreifen, sondern als ernstzunehmende Blätter im öffentlichen Archiv.
Normopathie, Bürokratie und die Kraft der Zahlen
Dass selbst solche bescheidenen Werkzeuge selten eingesetzt werden, liegt nicht nur an mangelnder Phantasie, sondern an einer eigentümlichen Normopathie: einer Baukultur, in der die Erfüllung von Richtlinien, Zertifikaten und Prüfschritten zur eigentlichen Hauptleistung geworden ist. Die Geschichte der Entstuckung beginnt heute selten am Gerüst, sondern im Tabellenblatt. Dort, wo „optional“, „nicht förderfähig“ oder „kann entfallen“ in den Spalten stehen, werden Atmosphäre und Lebensqualität gestrichen, bevor sie gezeichnet sind. Teuer ist das Bauen in Deutschland nicht in erster Linie, weil Stein, Stahl und Holz mehr kosten, sondern weil sich um jedes Bauteil ein ganzer Apparat aus Gutachten, Nachweisen und Versicherungen gelegt hat. Jede Norm zieht eine zusätzliche Fachplanung nach sich, jede Fachplanung einen Prüfbericht, jede Abweichung eine Zusatzvereinbarung; Verantwortung wird in immer feinere Zuständigkeiten zerschnitten, so dass am Ende niemand mehr entscheiden darf, aber alle absichern müssen. Vergabeverfahren erzwingen im ersten Schritt den billigsten Anbieter und im zweiten Schritt die teuersten Nachträge. Die eigentliche Bauleistung wird im Preis gedrückt, während Baunebenkosten, Dokumentations- und Steuerungsaufwand anschwellen – eine stille Umverteilung von der Mauer zum Papier, eine ausgelagerte Staatsquote, die sich als Privatwirtschaft tarnt. So entsteht eine Bauwirtschaft der Angst, in der Fehlervermeidung höher bewertet wird als räumliche Qualität und am Ende genau dort gespart wird, wo die Stadt es am deutlichsten spürt: an Fassade, Raumhöhe und Material.
Die Zahlen, auf die sich diese Rationalität beruft, sind real – Baukosten, Betriebskosten, Energiekennwerte –, aber sie werden in einer Schrift geführt, die fast ausschließlich Risiken, Haftungsfragen und kurzfristige Einsparungen abbildet. Was sich nicht in Formularfelder, Förderlogiken und Zertifikatsstufen übersetzen lässt – Proportion, Relief, Adressbildung, das leise Plus an Würde im Alltag –, taucht in dieser Buchhaltung nicht auf. Ein Haus mit klar ausgebildeter Erdgeschosszone, erkennbarem Sockel und gut proportionierten Fenstern erzeugt nachweislich höhere Nachfrage, stabilere Belegung, weniger Vandalismus; in den gängigen Kalkulationen erscheint davon nur eines: der Mehrpreis in der Bauphase. So entsteht ein strukturell verzerrter Markt, in dem das auf Jahrzehnte Billige systematisch gegen das heute scheinbar Günstige verliert.
(1) Der Rotstift müsste dort ansetzen, wo sich Mittel ohne nennenswerte städtische Wirkung stauen – in doppelten Nachweisen, redundanten Versicherungen, überhöhten Sicherheitsaufschlägen –, und es in sichtbare, räumlich wirksame Elemente verschieben: erkennbare Eingänge, robuste Sockel, differenzierte Dachkanten. Im internationalen Vergleich fällt schmerzhaft auf, wie sehr in Deutschland die Norm die Gestalt dominiert. Während anderswo Standardisierung Bauprozesse vereinfacht und Spielräume für Gestaltung öffnet, hat sich hier ein Normengefüge etabliert, das jeden Millimeter Abweichung als Gefährdung behandelt und die Architektur in eine ästhetische Notwehrhaltung zwingt.
(2) In einem zweiten Schritt müssten die Regelwerke selbst auf ihre Nebenwirkungen hin untersucht werden: Welche Vorgaben schützen tatsächlich Leib und Leben – und welche produzieren neue emergente Regelsysteme, das sich als unbeabsichtigtes Nebenprodukt der bestehenden Ordnung ausdifferenziert.? Wenn jede Profilierung als Haftungsrisiko, jede Materialkombination als künftige Regressquelle gilt, bleibt zwangsläufig nur die glatte, austauschbare Fläche übrig. Eine Baukultur, die ihren eigenen Mut nicht versichern kann, kleidet sich in moralisch aufgeladene „Zurückhaltung“ und verkauft ihre Angst als Tugend.
(3) Schließlich müsste auch die Ökonomie wieder als Verbündete begriffen werden. Digitale Fertigung, standardisierte, aber charaktervolle Bauteile und klar definierte Reliefzonen sind nicht naturwüchsig Kostentreiber, sondern können – richtig eingesetzt – den Wert einer Adresse, ihre Begehrlichkeit und Reparaturfähigkeit erhöhen. Es ist eine Illusion zu glauben, ein zusätzlicher Tabellenwert ändere die Praxis – Investoren rechnen längst langfristig, nur nach anderen Parametern: Flächenausnutzung, Exit-Szenario, Förderlogik. Solange Normen, Programme und Bewertungsraster räumliche Qualität weder erzwingen noch belohnen, bleibt die gut gestaltete Fassade als „weicher Faktor“ die erste Streichposition. Ökonomie als Verbündete zu denken heißt deshalb nicht, an Einsicht zu appellieren, sondern die Rahmenbedingungen so zu verändern, dass sich Großzügigkeit trotz kurzfristiger Zwänge lohnt – oder mindestens nicht permanent bestraft wird.
Blickt man auf die Gegenwart, könnte man versucht sein zu sagen: Das Ornament ist längst zurück – Ziegelfassaden werden von Robotern in Flechtmustern gesetzt, Betonschalungen tragen Logos, Glasflächen werden wie Stoff bedruckt, Medienfassaden flimmern, die Hülle wird zur bespielbaren Oberfläche. Gerade darin zeigt sich jedoch das Gegenbild zu jener Ornamentik, aus der die Gründerzeitfassaden gewachsen sind: Das neue Ornament ist Effekt ohne Archiv, gelöst von Materialherkunft, lokaler Bautradition und codierter Bedeutung; was heute in Berlin an die Wand gedruckt wird, kann morgen in Dubai und übermorgen in Shenzhen hängen, ohne seinen Sinn zu verändern. So markieren kritische Rekonstruktion und digitaler Effektschmuck zwei Pole derselben Verweigerung: hier die museal fixierte Kulisse, dort die kontextlose Spektakelhaut, beide umgehen jene langsame, konfliktreiche Einschreibung, aus der die Gründerzeit hervorging. Am Anfang dieser drei Teile stand daher eine einfache Zumutung: Ornament ist kein Verbrechen. Nimmt man es als Haut des Bauwerks, als Speicher von Konstruktion, Gebrauch und sozialem Code ernst, wird die Entstuckung des 20. Jahrhunderts zur kollektiven Amnesie – und das, was heute als „ornamentierte“ Architektur gehandelt wird, entpuppt sich als Ersatzhandlung: historische Maske hier, digitaler Effekt dort, in beiden Fällen Fassaden, die aussehen, aber nichts mehr erzählen.
Schlussstein
Am Anfang dieser drei Teile stand eine einfache Zumutung: Ornament ist kein Verbrechen. Wenn man es als Haut des Bauwerks, als Speicher von Konstruktion, Gebrauch und sozialem Code ernst nimmt, wird die Entstuckung des 20. Jahrhunderts zur kollektiven Amnesie – und das, was heute als „ornamentierte“ Architektur gehandelt wird, entpuppt sich oft als Ersatzhandlung: historische Maske hier, digitaler Effekt dort.
Unterwegs ist deutlich geworden, warum die Gründerzeit nicht zurückkommt. Sie war keine Stil-Schublade, die man wieder aufziehen könnte, sondern eine Produktionsweise: viele kleine Bauherren, serielle, aber variable Stuckindustrie, billige Handarbeit, eine vergleichsweise durchlässige Bauordnung – und eine Stadt, die erst im Gebrauch, in Umbauten, Patina und Widersprüchen dicht wurde. Dieses Geflecht lässt sich nicht mit neuen Gestaltungsleitlinien simulieren. Das Ergebnis sind jene „alt aussehenden“ Häuser, die formal alles richtig machen und trotzdem tot wirken: Taxidermie der Stadt.
Gleichzeitig hat sich eine deutsche Spezialität etabliert: Wir bauen in der Anmutung von Atomschutzbunkern – technisch überkorrekt, normgesättigt, gerichtsfest, gutachterneutral – und wundern uns über Wohnraummangel, explodierende Preise und eine gebaute Umwelt, die trotz Zertifizierbarungsalphabeth ärmer und kälter wirkt als undichten, sanierungsbedürftigen Mietskasernen des 19. Jahrhunderts. Wer an dieser Stelle einwendet, es gehe bei der Fassadenfrage um bloßes „Schöngeistgehampel“ angesichts eines dramatischen Wohnraummangels, verfehlt den Punkt: Die Wohnungskrise ist real, aber sie wird nicht dadurch ästhetische Verödung gelöst. Gerade dort, wo Wohnraum knapp und teuer, entscheidet die Qualität von adressbildender Gestaltung, auskömmlicher Proportion, Belichtung, Raumhöhe und identitätsstiftender Hülle darüber, ob das tägliche Leben in diesen Quadratmetern als Zumutung inhumaner Stallhaltung oder als erträgliche Normalität humaner Existenz empfunden wird.
Gleichzeitig ist der Wohnraummangel nicht nur ein technisches oder normatives Problem, sondern auch eine Folge politischer Entscheidungen zur Steuerung von regulärem Zuzug, illegaler Migration und Verdichtung: Seit Jahren wachsen die Städte schneller, als Bebauungspläne, Infrastruktur, Sozial- und Wohnungsbau hinterherkommen, die unter anderen Bedingungen und Annahmen geplant wurden. Statt diese Spannung offen zu benennen und offensiv in bezahlbaren Bestand und Neubau zu investieren, wird sie stillschweigend in die Bestände hineingedrückt – mit dem Ergebnis, dass alte Häuser überbelegt, neue Bauten verknappt, teuer, zeitraubend sind und beide politisch gegeneinander ausgespielt werden. Das eigentliche Desaster ist eine Politik, die Migration, Bodenpolitik und Baukultur getrennt voneinander behandelt und dann überrascht ist, wenn das System unter der Last ihrer eigenen Widersprüche ächzt. Das eigentliche Desaster ist auch eine Politik, die so tut, als könne sie den demografischen Wandel am Reißbrett geplant und ihn dann mit ein paar Notunterkünften und „Nachverdichtung“ abgearbeitet werden.
Bauen ist auch deshalb teuer, weil sich um jedes Bauteil ein ganzer Apparat von Gutachten, Nachweisen, Versicherungen und Vergabeverfahren gelegt hat, der aus Angst vor Fehlern genau dort den Rotstift ansetzt, wo die Stadt es am deutlichsten spürt: Fassaden, Raumhöhen, Materialien, Atmosphäre und Qualität.
Die Beispiele der „kritischen Rekonstruktion“ zeigen, wie wenig diese Struktur mit etwas Sandstein und Profil zu heilen ist. Was heute „à la Gründerzeit“ entsteht, imitiert Silhouetten, nicht Herstellungsbedingungen; es reproduziert den moralischen Rahmen – Pracht nur als Ausnahme, nur als Kulisse, nur im Konsens –, nicht die unheimliche Großzügigkeit, die die alten Straßenzüge bis heute tragen. Zwischen normierter „Zurückhaltung“ und historisierendem Wohlverhalten bleibt echte Fülle systematisch ausgesperrt.
Die wenigen Werkzeuge, die bleiben – Relief statt bloßem Motiv, begrenzte, aber charakteristische Baukästen, Fassaden als Informationsschichten, Zerlegung von Großprojekten in adressierbare Häuser, Umschichtung von Geld aus Papier- in Steinqualität – sind deshalb ehrlich gesagt keine Erlösungsformel, sondern der Versuch, innerhalb eines dysfunktionalen Systems minimale Spielräume zu markieren. Sie ersetzen weder die verlorene Vielfalt der Akteure noch die historische Zeit, die Widersprüche und Schönheit einschreibt. Sie sagen nur: Selbst im Land der Atomschutzbunker ließe sich mehr wagen, als wir derzeit tun.
Was daraus folgt, ist ein unbequemes Resümee:
- Die Gründerzeit kehrt nicht zurück.
- Was heute als „Gründerzeit-Imitat“ entsteht, ist meist kulissenhafte Taxidermie.
- Die Normen-, Haftungs- und Förderlogiken der Bundesrepublik erzeugen eine Bauwirtschaft, die Wohnraum verknappt, Kosten explodieren lässt und ästhetische Qualität systematisch marginalisiert – und sich dafür noch moralisch belohnt.
Wenn es so weiterläuft, wird das 21. Jahrhundert in den deutschen Städten als glatte Zwischenphase lesbar sein: technisch übererfüllt, atmosphärisch unterspannt, politisch hochreguliert und architektonisch erstaunlich mutlos. Der eigentliche Skandal ist weniger, dass wir zu wenig Ornament hätten, sondern dass wir uns jede Form von sichtbarer Großzügigkeit ausreden – aus Angst vor Kosten, vor Haftung, vor Geschmack, vor „falschen Bildern“. Denn mehr Ornament zu wagen heißt in diesem Kontext nicht, überall Putten anzuschrauben, sondern die Dinge beim Namen zu nennen: dass Proportion, Relief und Tiefe keine Luxuslaune sind, sondern Grundbedingungen einer Stadt, in der man leben will. Es als Geschmacksfrage abtut, ist Teil des Problems: Es geht nicht um Dekor, sondern um die Frage, ob die Stadt auch für diejenigen, die sich keine Ferienhäuser und Zweitwohnungen leisten können, ein halbwegs ansehnlicher, würdiger, identitätsstifender Lebensraum bleibt, der nicht nur funktioniert, sondern auch lebt. Und dass sich daran politische Fragen knüpfen – nach Bauordnungen, Haftungsrecht, Förderpolitik und öffentlicher Hand als Bauherrin –, die nicht länger hinter Renderings, Leitbildern und wohlmeinenden Gestaltungsbeiratsprotokollen verschwinden sollten.
Die Aussicht ist nicht rosig. Aber vielleicht ist es bereits ein Gewinn, die Lüge zu benennen, dass all das nur eine Frage des Geschmacks sei. Es ist eine Frage der Strukturen. Und solange die bleiben, wie sie sind, bleibt auch der Widerspruch: dass eine Gesellschaft, die sich angeblich keinen Stuck leisten kann, sich gleichzeitig eine Baukultur erlaubt, in der fast alles teurer und fast nichts ästhetischer, hochwertiger, besser wird.

- Mit „Stadtkorrektur“ ist hier kein feststehender Fachbegriff gemeint, sondern eine polemisch zugespitzte Sammelbezeichnung für die Tradition der „behutsamen Stadterneuerung“ – wesentlich geprägt durch Hardt-Waltherr Hämer, Professor für Entwerfen an der damaligen Hochschule für Bildende Künste, und für den Paradigmenwechsel in der Stadtentwicklungspolitik der 1970er Jahre. In Rahmen der internationalen Bauausstellung (IBA) kamen die „kritische Rekonstruktion“ hinzu, die ebenfalls den Anspruch formulierten, ein beschädigtes Stadtgefüge zu „heilen“. Wenn im vorliegenden Text von „Stadtkorrektur“ die Rede ist, meint dies diese ganze, normativ aufgeladene Familie von Erneuerungs- und Reparaturprojekten.
Vgl. zum Konzept der „behutsamen Stadterneuerung“ und zur Rolle von Hardt-Waltherr Hämer als Professor an der Hochschule für Bildende Künste Berlin (heute UdK) sowie Planungsdirektor der IBA-Altbau: Christian Kloss, „Hardt-Waltherr Hämer ist tot“, urbanophil – Magazin für urbane Kultur, 30.09.2012, online unter https://urbanophil.net/stadtentwicklung-stadtpolitik/hardt-waltherr-hamer-ist-tot/ (Zugriff am: 05.12.2025). ↩︎ - Im Grunde lässt sich die Kritische Rekonstruktion – polemisch zugespitzt – als spätmoderne Neuauflage des Heimatschutzstils lesen – allerdings unter veränderten Mitteln: maßstäblich und typologisch der Unterordnung unter einen städtebaulichen Rahmen verpflichtet, der „die Geschichte des Ortes respektiert und neu interpretiert“. Ein solches Entwurfskonzept wurde etwa am Berliner Vinetaplatz mit der Wiederherstellung der Blockfigur im Rahmen des Ersten West-Berliner Stadterneuerungsprogramms (ab 1977) exemplarisch durchexerziert.
Josef Paul Kleihues: Die IBA vor dem Hintergrund der Berliner Architektur- und Stadtplanung des 20. Jahrhunderts. In: Vittorio Magnago Lampugnani (Hrsg.): Schriftenreihe zur Internationalen Bauausstellung Berlin. Die Neubaugebiete. Dokumente Projekte. Modelle für eine Stadt, Berlin 1984, S. 36. In: Gutachten 2010 zur IBA 1984/87, S. 21. ↩︎ - Gemeint ist hier der Vergleich zwischen den großstädtischen Mietshausquartieren der späten Gründerzeit (ca. 1880–1914) und den seit den 1990er Jahren entstandenen, durch Wettbewerbe und Leitbilder gesteuerten Wohn- und Mischnutzungsensembles (etwa in der „Europacity“ nördlich des Berliner Hauptbahnhofs, an der Rummelsburger Bucht oder in der Seestadt Aspern in Wien). In der Vorkriegsstadt reagierte jede Fassade auf eine eigene Parzelle, einen eigenen Bauherrn und eine spezifische Grundrissfigur; die Straßenfront ergab sich aus der Addition verwandter, aber nie identischer Häuser, mit deutlicher Gliederung in Sockel, Mittelzone und Abschluss sowie ablesbaren Adressen und Übergängen zwischen öffentlichem und privatem Raum.
In den gegenwärtigen Quartieren lassen sich demgegenüber zwei typische Strategien beobachten: Zum einen jene großformatigen Blöcke, die entlang einer Hauptstraße als durchlaufender Baukörper entwickelt und anschließend minimale Höhenversprünge und wechselnde Putz- oder Klinkerfelder in scheinbar mehrere „Häuser“ zerteilt werden – ein Verfahren, wie man es exemplarisch an den langen Riegeln der Europacity findet. Hier bleibt die Parzelle nur als Fassadenmotiv simuliert; der Stadtraum erlebt faktisch einen einzigen, schwer artikulierbaren Baukörper.
Zum anderen Ensembles wie die Seestadt Aspern, in denen zwar verschiedene Bauherren und Büros beteiligt sind, die Projekte jedoch sämtlich aus demselben Formenvorrat von glatten, leicht changierenden Wärmedämmhüllen schöpfen. In beiden Fällen verliert die Stadt ästhetisch, weil die Fassaden kaum noch reale Differenzen von Haus, Typus, Nutzung oder Milieu markieren, sondern eine durchlaufende Schicht neutraler Wohnmaschinen ausbilden – korrekt und normgerecht, aber ohne hierarchische Staffelung und ohne jene physiognomische Tiefe, die ein Straßenraum erinnerbar macht. ↩︎

