Nach Ansicht des Kunsthistorikers August Schmarsow (1853–1936), eines frühen Vordenkers einer modernen, auf Körpererfahrung und Wahrnehmung gegründeten Raumtheorie, kann der gebaute Raum erst mit der gedachten Bewegung des menschlichen Körpers entstehen. Im Umkehrschluss heißt es, dass ein sich bewegender Mensch in der Interaktion mit seiner physischen Umwelt und menschliches Handeln die Voraussetzung für Raumbildung überhaupt darstellen, indem „Bewegungs-“, „Erfahrungs-“, „Spiel-“ und „Handlungsräume“ des Einzelnen als Hüllen einer subjektiven Wahrnehmung umbaut werden. Damit verlagert sich der architektonische Schwerpunkt unmerklich von der fertigen Form auf den Vorgang des Sich-Bewegens selbst: Der Raum ist bei Schmarsow kein neutrales Behältnis, kein bloßer Container für Funktionen, sondern ein zeitlich entfalteter Vorgang – ein „Durchwandern“, das in den Körper eingeschrieben ist. Der Mensch ist nicht Benutzer einer ohnehin vorhandenen Bühne, sondern Mit-Produzent des Bühnenraums, der sich erst im Gehen, Stehen, Wenden, Im-Raum-Sein bildet.
Genauer gesagt: „Sobald aus den Residuen sinnlicher Erfahrung, zu denen auch die Muskelgefühle unseres Leibes, die Empfindlichkeit unserer Haut wie der Bau unseres ganzen Körpers ihre Beiträge liefern, das Resultat zusammenschließt, das wir unsere räumliche Anschauungsform nennen, […] – sobald wir uns selbst und uns allein als Centrum dieses Raumes fühlen gelernt, dessen Richtungsaxen sich in uns schneiden, so ist auch der wertvolle Kern gegeben, das Kapital gleichsam des architektonischen Schaffens begründet […].“1

Wir kennen diese Ideen des Individuums als Ausgangspunkt einer subjektivierten und psychologisierten Raumwahrnehmung vom vitruvianischen Menschen und aus dem einige Jahre später erschienenen Neufert oder dem Modulor-Konzept, wo der Raum erstmals [wieder] aus den leiblichen Möglichkeiten und Bedürfnissen eines geometrisierten, gemittelten Menschen gedacht wurde. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper und seinen Parametern von so immenser Bedeutung für die Architektur – und nicht nur für die Pathologie. Zugleich zeigt sich in diesen Leitfiguren des „maßgerechten Menschen“ – vom vitruvianischen Ideal über Neuferts Tabellenwerke bis hin zum Modulor des Jeanneret-Gris2 – auch die problematische Kehrseite einer solchen Körperzentrierung: Der Raum wird auf einen normierten, gesunden, erwachsenen Körper hin kalibriert, der weder Siechtum noch Gebrechen, weder Schwäche noch Fragilität kennt und damit etwas Totalitäres impliziert, wie der Körperkult der dreißiger Jahre deutlich zeigte. Gerade vor diesem Hintergrund erscheint Schmarsows Hinweis auf das individuelle Empfinden als subtiles Korrektiv: Er erinnert daran, dass es nicht den einen Körper gibt, der Maß aller Dinge sein könne, sondern eine Vielzahl leiblicher Situierungen, aus denen sich eine entsprechend vielfältige Architekturerfahrung ergibt.

Die Ideen Schmarsows hallen auch in der gegenwärtigen Baupraxis nach, die — auch aus demographischen Gründen — Barrierefreiheit zunehmend berücksichtigt. Schul- und Büroneubauten versuchen, bisherige Grundrisskonzepte durch „Lernlandschaften“ und offene Arbeitszonen zu ersetzen, um informellen Gesprächen, wechselnden Körperhaltungen und der essenziellen Verbindung von Bewegung und Konzentration Raum zu geben. Ausstellungs- und Museumsarchitektur fokussiert sich weniger auf eine Ergänzung von Exponaten um stilisierte Inneneinrichtungen3 als auf eine Inszenierung der leiblichen Dramaturgie — vom gedämpften, fast sakralen Eintrittsraum bis zur überhellten Austrittssituation mit Museumsshop. Schmarsows Bild vom Raum, der erst im Durchschreiten entsteht, könnte man hier fast eins zu eins als Planungsmaxime daneben schreiben. In Flughäfen, Bahnhöfen oder Einkaufszentren wird mit Sichtachsen, Durchblicken, Geschosshöhen, Deckenabsenkungen und Lichtfeldern gearbeitet, um Überforderung zu reduzieren und intuitive Orientierung zu ermöglichen. Auch das ist eine Form leiblicher Raumplanung: Man entwirft für den desorientierten, müden, beladenen Körper, der in kürzester Zeit verstehen muss, „wo er hin muss“. Schmarsows These vom Raum, der erst im bewegten Menschen entsteht, ist damit weniger ein historischer Randbefund als eine bis heute nicht ausgeschöpfte Einladung, Architektur als Kunst der leiblich situierten Wahrnehmung ernst zu nehmen.
Bezogen auf die Museumsbauten und ihre stilisierten Inneneinrichtungen sei an zahlreiche bühnenhaften „Ägyptenräume“ erinnert, die im 19. Jahrhundert entstanden sind. Sie finden ihr Echo nicht nur in der Museumsarchitektur des Historismus (u.a. in Berlin und Wien), sondern auch in einer künstlerischen Arbeiten, in der ich die historisierende Bildsprache der Ägyptomanie aufnehme und variiere:


- zitiert nach: Schmarsow, August
In: Antrittsvorlesung, gehalten in der Aula der K. Universität Leipzig am 8. November 1893 / August Schmarsow – Leipzig: Hiersemann (1894); 30 S. ↩︎ - besser bekannt als Le Corbusier ↩︎
- Bei den stilisierten Inneneinrichtungen seien vor allem die zahlreichen ägyptischen Museen zu erwähnen, deren Entstehung eng mit der Ägyptomanie des 19. Jahrhunderts verbunden ist und die zur Gründung umfangreicher ägyptischer Sammlungen sowie zur Ausstellung von Fund- und Ausgrabungsstücken aus Ägypten durch die europäischen Kolonialmächte führten. Befeuert wurde diese Entwicklung nicht zuletzt durch Napoleons Ägyptenfeldzug (1798–1801), der die Faszination für das „Pharaonische“ in Europa nachhaltig verstärkte. ↩︎

