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Daniel Yakubovich
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      • „Architektur kann kein Trauma heilen“
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      • „Wie soll der Wiederaufbau aussehen?“
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      • Nachwort (2025)
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Daniel Yakubovich Daniel Yakubovich

Über das Sammeln — zur Pathologie eines Hobbies und zur Schizophrenie der sprechenden Möbel

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„Diese Möbelstücke, diese Dinge, sie atmen. Sie stöhnen in der Nacht und räuspern sich im Morgengrauen.“ — frei nach Rainer Maria Rilke 1

Wer beginnt, Dinge um sich zu sammeln, wird eines Tages merken: Er wohnt nicht nur mit Möbeln. Er wohnt mit alten Leuten. Sie stehen in der Ecke, sie hängen an den Wänden, sie lehnen an Türen. Sie bringen Geschichten mit, die sich nicht mehr erzählen lassen, und ein Schweigen, das lauter ist als jedes Gespräch. Man lebt dann in einer Wohngemeinschaft mit der Vergangenheit, mit Möbeln, die atmen, mit Schalen, die Erinnerungen ausdünsten, mit Spiegeln, die mehr von der Zeit als von uns selbst zurückwerfen.

Aus dieser Erfahrung heraus entsteht jede Sammlung: nicht aus Besitzlust, sondern aus einer stillen Annahme der Geschichten, die andere verloren haben. Wir kaufen, was andere nicht mehr besitzen können. Wir adoptieren, was andernorts heimatlos geworden ist. Und doch bleibt es ein Missverständnis, zu glauben, Sammlungen würden einem minutiös durchkomponierten Plan folgen, seien intentional entstanden oder könnten je ein in sich geschlossenes Sammlungskorpus behaupten. Wer je eine Jardinière ersteigert oder einen historistischen Herrenschreibtisch erworben hat, der einzig veräußert wurde, weil die Hinterbliebenen Erinnerungsstücke an ihre Verstorbenen loswerden wollten, der weiß: Sammlungen sind das schönste Produkt sentimentaler Kapriolen und der Übereinkünfte mit dem Zufall, die unser Leben formen.

Was auf den ersten Blick aussieht wie eine willkürliche Anhäufung von Silberwaren, Möbeln, Skulpturen und Vasen, ist in Wahrheit eine präzise Kartographie von Süchten und Sehnsüchten: Süchte aus Habgier und innerer Leere. Sehnsüchte aus Angst vor der eigenen Vergänglichkeit. Sehnsüchte nach Beständigkeit in einer sich ständig verflüchtigenden Welt. Man sammelt nicht Dinge. Man sammelt Zeit. Man kartiert das Verschwinden.

Walter Benjamin hat diesen Mechanismus in weitschweifiger, fast barocker Prosa ausgedrückt, die sich in einem Satz zusammenfassen lässt: Der wahre Sammler besitzt seine Dinge nicht, er wird von ihnen besessen.2

Zugleich sind Sammlungen auch ein Mosaik kleiner Rettungen: Fragmente von Schönheit, Alltag und Erinnerung, die, einmal geborgen, einen Bedeutungsüberschuss erlangen, der mehr ist als die Summe ihrer bloßen materiellen Einzelteile. Jede restaurierungsbedürftige Skulptur, jede auf wundersame Weise durch die Wirren des 20. Jahrhunderts gerettete Jardinière, jede aus den ehemals deutschen Haushalten jenseits der Oder–Neiße zurückgekehrte Vase, jeder angelaufene Silberlöffel verfügt über eine Provenienzgeschichte und eine kunsthistorische Einordnung. Mit ihnen erkauft man sich ein Stück weit auch seine eigene Geschichte, Fragment für Fragment, als handle es sich um eine Versicherung gegen das eigene Verschwinden. So wie wir heute unter unseren Fundstücken leben, in einer stillen Wohngemeinschaft mit Geschichten, die nicht die unsrigen sind, haben wir uns eine neue Chronik erkauft – zusammengesetzt aus den Fragmenten fremder Leben.

In hundert Jahren wird nichts davon mehr uns gehören. Andere werden dort wohnen, wo wir heute wohnen. Andere werden auf diesen Stühlen sitzen, auf denen wir sitzen. Andere werden in diese Spiegel blicken und an diesen Schalen achtlos vorübergehen – oder sie neu lieben. Man darf sich nicht täuschen: Man sammelt nicht Dinge. Man sammelt Zeit. Man kartiert das Verschwinden, trägt Geschichten zusammen und (er)trägt Erinnerungen zusammen. Aber für einen Moment – diesen flüchtigen, widerspenstigen Moment – halten wir die Dinge fest. Und vielleicht, nur vielleicht, wird etwas von dem, was wir hier bewahrt haben, einmal erzählen können: dass wir da waren.

© 2025 Daniel Yakubovich
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© 2025 Daniel Yakubovich
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© 2025 Daniel Yakubovich
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  1. Die dem Text vorangestellte Sentenz ist eine eigene Formulierung und kein wörtliches Rilke-Zitat; sie knüpft an die Pariser Prosatexte und die Ding-Welt Rilkes an, in denen Zimmer, Möbel und Gegenstände als Träger einer leisen, beinahe atmenden Gegenwart erscheinen (vgl. Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910), insbes. Kap. 16, sowie Tagebuch Westerwede und Paris. 1902) ↩︎
  2. nach Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band V: Das Passagen-Werk, 2 Teilbände, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982.

    „Man mag davon ausgehen, daß der wahre Sammler den Gegenstand aus seinen Funktionszusammenhängen heraushebt. Aber das ist kein erschöpfender Blick auf diese merkwürdige Verhaltungsweise. Denn ist nicht dies die Grundlage, auf der eine im Kantischen und Schopenhauerschen Sinne »interesselose« Betrachtung sich aufbaut, dergestalt, daß der Sammler zu einem unvergleichlichen Blick auf den Gegenstand gelangt, einem Blick, der mehr und anderes sieht als der des profanen Besitzers und den man am besten mit dem Blick des großen Physiognomikers zu vergleichen hätte. Wie aber der auf den Gegenstand auftrifft, das hat man sich durch eine andere Betrachtung noch weit schärfer zu vergegenwärtigen. Man muß nämlich wissen: dem Sammler ist in jedem seiner Gegenstände die Welt präsent und zwar geordnet. Geordnet aber nach einem überraschenden, ja dem Profanen unverständlichen Zusammenhange. Der steht zu der geläufigen Anordnung und Schematisierung der Dinge ungefähr wie ihre Ordnung im Konversationslexikon zu einer natürlichen. Man erinnere doch nur, von welchem Belang für einen jeden Sammler nicht nur sein Objekt sondern auch dessen ganze Vergangenheit ist, ebensowohl die zu dessen Entstehung und sachlicher Qualifizierung gehört wie die Details aus dessen scheinbar äußerlicher Geschichte: Vorbesitzer, Erstehungspreis, Wert etc.“ ↩︎

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