Ein feste Burg ist unser Gott – ein gute Wehr und Waffen
Martin Luther, 1529

© Daniel Yakubovich.
„Durch die Errichtung der Neubauten wurde das Grundstück indessen nur mit 2.150 qm beansprucht, sodass in der Britzer Straße noch ein Bauplatz durch ein Wohngebäude verfügbar ist, dessen Errichtung einer späteren Zeit vorbehalten bleibt“, schrieb Alexander Beer vor mehr als hundert Jahren, als er in einem Beitrag der Deutschen Bauzeitung die Setzung des von ihm entworfenen Bauvolumens lobpreiste.
Im Zuge der baulichen Wiedererschließung des Grundstücks zwischen Fraenkelufer und Kohlfurter Straße soll diese Überlegung Beers Wirklichkeit werden: Im nördlichen Teil des Grundstücks befindet sich ein Wohnhaus, das dem Komplex zugeordnet wird. Darin werden programmatische Funktionen untergebracht, die zwar integraler Bestandteil des Gesamtnutzungskonzepts sind, jedoch nicht in unmittelbarer räumlicher Nähe zu den publikumsintensiven Bereichen des Hauptgebäudes angesiedelt werden sollen. So befinden sich im Sockelgeschoss ein kompakter Kindergarten sowie nutzungsflexible Bewegungsräume mit Fokus auf Gesundheits- und Freizeitangebote wie etwa Yoga. In den oberen Geschossen sind urbane Wohnformen in Form von Dienstwohnungen untergebracht, ergänzt durch gemeinschaftlich nutzbare Dachgärten mit Flächen für Urban Gardening.


Die funktionale Erschließung der unterirdischen Versorgungseinheiten (Hausanschlussraum, Mieterkeller und Müllsammelstelle) erfolgt über einen Schrägaufzug, der eine Anbindung an die logistische Erschließungstraße zur Versorgungseinheit der benachbarten Schule sicherstellt. Die Müllentsorgung erfolgt über denselben Anlieferungspunkt, wodurch eine klare Trennung zwischen Besucher- und Betriebsverkehr gewährleistet ist. Für die Unterbringung der genannten Funktionen ist ein kompakter Baukörper mit vier oberirdischen Vollgeschossen ausreichend.
Die vertikale Organisation folgt einer klaren Trennung nach Nutzungsgruppen, wobei die Stapelung von Bildungs-, Wohn- und Gemeinschaftsnutzungen eine effiziente Ausnutzung des Bauvolumens bei gleichzeitig minimierter Versiegelung des Grundstücks gewährleistet.
Städtebauliches Konzept

© Daniel Yakubovich.
Im städtebaulichen Kontext fungiert die viergeschossige Bauhöhe als vermittelndes Glied zwischen der heterogenen Umgebungsbebauung aus fünfgeschossigen gründerzeitlichen Wohnhäusern und der niedrigeren, dreigeschossigen Schulbebauung. Diese Maßstäblichkeit ermöglicht einen gestaffelten Übergang im Straßenraum und trägt zur Harmonisierung des stadträumlichen Gefüges bei. Aus der Perspektive des Gesamtensembles betrachtet, markiert die Höhenentwicklung des Wohn- und Kinderhauses bewusst eine subordinierte Stellung gegenüber dem Hauptbaukörper, was durch eine gezielte Einschnürung und Gliederung des Bauvolumens zusätzlich artikuliert wird.
Wie ein leicht aufgezogener Theatervorhang ermöglicht der Einschnitt einen Blick in die Tiefe des Grundstücks – auf die Gedenkstätte, wo sich einst das Allerheiligste befand. Die straßenseitige Anordnung der Erschließungskerne verleiht dem Volumen eine klare, monolithische Ausprägung und erzeugt durch die bewusste Abwesenheit transparenter Elemente eine kraftvolle, beinahe archaische Fassadenwirkung. Die dadurch entstehende massive Erscheinung betont nicht nur die funktionale Trennung von Innen- und Außenraum, sondern kanalisiert auch gezielt die Wahrnehmung des Betrachters.
Sicherheitskonzept
In sicherheitstechnischer Hinsicht bietet dieser Abschnitt des Gebäudes eine optimale Voraussetzung für eine kompakte, wettergeschützte Kontrollstation der Polizei. Der räumlich zentrale Standort ermöglicht aus dieser Dreh- und Angelstelle eine lückenlose visuelle Kontrolle der sechs Gebäudezugänge – in Analogie zu einem foucaultschen Panopticon, das Überwachung durch strukturelle Transparenz und geometrische Zentralität erzeugt, ohne sich selbst exponieren zu müssen.

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Eingangssituation
Neben dem südorientierten Eingang wird somit ein zweiter formuliert, der die funktionale Raumordnung der alten orthodoxen Beer-Synagoge mit ihren zwei janusköpfigen Gesichtern – zur Stadt und zum Ufer – aufgreift. Es entstehen thematisch und atmosphärisch divergierende Eingangssituationen, die es ermöglichen, ein derart komplex zugeschnittenes Grundstück von mindestens zwei Seiten des Wohnblocks unterschiedlich zu bespielen: Während sich im Süden eine weltliche Fassade mit Fenstern für Verwaltungs-, Bibliotheks- und Gemeinderäume sowie Konzertfoyers eröffnet und der Vorplatz mit seiner breiten Glasfront durch ein Café belebt wird, ist der nördliche Eingang weitaus schmaler, enger und führt zu einer schlichten Gedenkstätte. Obwohl beide Fassaden – dem jeweiligen Publikumsverkehr entsprechend – unterschiedlich breite und unterschiedlich einladende Eingangssituationen aufweisen, stellt das Treppenhaus in die Synagoge und die Mikwe in beiden Fällen den Haupteingang dar.
Fassade
Weder das Wohn- und Kinderhaus noch die hofseitige Fassade des dahinterliegenden Hauptgebäudes verfügen über ablesbare Fensteröffnungen oder eine Fassadengliederungen, die auf eine horizontale Schichtung der inneren Nutzungseinheiten schließen ließen. Während sich das nördliche Wohnhaus durch die gezielte Positionierung seiner Erschließungskerne nach außen abschottet, entfaltet auch das Hauptgebäude eine bewusst zurückhaltende, in ihrer Massivität fast melancholisch wirkende Anmutung. Der Baukörper verweigert sich jeder Repräsentation im Straßenraum und formuliert stattdessen ein Moment architektonischer Entzogenheit, das im Kontext des Gedenkorts seine eigene stille, aber deutliche Sprache spricht – wie im folgenden Kapitel näher ausgeführt wird.

© Daniel Yakubovich.
Dramaturgie der Schwelle
Die Schlucht, durch die der Besucher in den Hof eintritt, referenziert das zur IBA 1987 in Berlin realisierte Wohnhaus von Álvaro Siza, das als Bonjour Tristesse bekannt wurde und eine Lücke zur benachbarten Brandwand ausbildet. Im vorliegenden Projekt bewegt sich der Besucher – ähnlich wie im Treppenhaus des Hauptgebäudes auf dem Weg zu Gott – durch ein zunächst finsteres, enges Tal, das sich raumdramaturgisch zu einem Hof aufweitet.
Zugleich ragen die beiden Wohnhäuser wie Festungstürme empor und zitieren die antike Burg Antonia, die sich – von Flavius Josephus noch im 1. Jahrhundert eingehend beschrieben – ebenfalls im nördlichen Teil des Tempelbergplateaus befand, weil nahezu alle Angriffe auf Jerusalem von Norden aus erfolgten. Benannt nach seinem römischen Gönner Marcus Antonius, ließ Herodes die Festung errichten, die sich nach außen hin als uneinnehmbare, massige Bastion präsentierte, im Inneren jedoch als repräsentativer Wohn- und Verwaltungspalast mit Sälen, Bädern und Wohntrakten ausgestaltet war. Gerade dieser Kontrast zwischen äußerer Wehrhaftigkeit und innerer Kultivierung erklärt, weshalb die Festung bei der Einnahme Jerusalems im Jahr 70 nach Christus rasch fiel und auf Befehl von Titus dem Erdboden gleichgemacht wurde. Im vorliegenden Projekt öffnet sich das Wohnhaus zum Hof mit Loggien und großzügigen Fensterflächen, die den janusköpfigen Charakter des Hauses unterstreichen und dem Gebäude mit seinen zurückversetzten Außenbereichen der Dienstwohnungen in den oberen Etagen eine skulpturale Anmutung verleihen.
Durch den in der Sockelzone des westlichen Gebäudes untergebrachten Kindergarten und das Tanzstudio mit angeschlossenen Pausen- und Umkleideräumen im östlichen Gebäudeteil spannt sich gemeinsam mit der gegenüberliegenden Gedenkstätte ein Raum auf, in dem sich der heitere Ton des Alltags Schritt für Schritt in eine Andacht überführt wird – je weiter man vordringt, desto stiller wird es. In ähnlicher Weise befinden sich ein ehemaliger jüdischer Friedhof und eine Gedenkstätte anstelle des zerstörten Jüdischen Altersheims gegenüber dem Schulhof der Jüdischen Oberschule (seit 2012 Jüdisches Gymnasium Moses Mendelssohn) in der Großen Hamburger Straße – und veranschaulichen damit die Koexistenz der Erinnerung mit dem unaufhaltsamen Fortgang des Lebens selbst.
Bis auf einen schmalen Spalt deutet kaum etwas auf den dahinterliegenden, großzügig begrünten Hof hin, der wie eine paradiesische Gartenoase dem Blick des Passanten verborgen bleibt. Gemeinsam mit dem Dachgarten greifen beide Grünräume das Motiv des hortus conclusus als Sinnbild von Abgeschlossenheit und Verheißung auf. Wie Moses am Ende seines Weges auf das Gelobte Land blickte, das er selbst nicht betreten durfte, so bleibt auch dem flanierenden Passanten dieser grüne Innenraum verwehrt – vielleicht sichtbar, aber nicht zugänglich. Der Garten wird damit nicht nur zum Sinnbild von Zurückhaltung und bewahrender Distanz, sondern auch zum Spiegel einer Architektur, die das Heilige nicht durch Offenbarung, sondern durch Entzug inszeniert. Ein Ort, der nicht auf sich aufmerksam macht, sondern auf das, was fehlt.


Siehe auch:








